Emerson machte ebenfalls seinen Abschluss an der Harvard Divinity School und wirkte für kurze Zeit als Geistlicher der unitarischen Kirche. Schon bald wurde ihm aber die Arbeit innerhalb der Grenzen einer organisierten Religion zu unbequem.168
1836 veröffentlichte Emerson sein erstes Buch mit dem Titel Nature , ein Buch, mit dem er ein Feuer religiöser Einbildungskraft bei seinen Zeitgenossen entfachte. Als dieses Buch gerade erschienen war, dachten viele, es sei ein swedenborgianisches Buch. Tatsächlich handelte es sich um Emersons Manifest des Transzendentalismus. Emerson rebellierte darin sowohl gegen den wissenschaftlichen Materialismus als auch gegen die auf die Bibel gegründete Religion seiner Tage. Seine Vision transzendierte die Orthodoxie. Er erkannte die Gegenwart Gottes in der Welt, nicht im Gegensatz zur Wissenschaft, sondern in einem erheblich weiteren Kontext als ihn die Wissenschaft erfassen konnte. Er erkannte die Heiligkeit der Natur und schrieb, dass der selbstlose Aufenthalt in der Natur die Wahrnehmung der Ströme des universalen Seins ermöglichen könne, die durch diese Welt flössen. Emerson zufolge sei der höchste Gebrauch der Natur die Offenlegung der verborgenen Energien der Seele, welche die Menschheit von ihrer Selbstliebe befreiten – das war sein Hauptthema. Er betrachtete die organisierte christliche Religion als unnütz und meinte, dass das moderne Christentum zu einer Störung in der Beziehung zwischen den Individuen und ihrem Schöpfer geworden sei und den spirituellen Aspekt blockiere, der in jedem Einzelnen und allen angelegt sei. Die organisierte Religion beiseite lassend stellte er eine neue, deutlich davon abweichende, amerikanische kirchenferne Spiritualität vor, eine metaphysische Bewegung, die viele gebildete Menschen im Neuengland des 19. Jahrhundert und schließlich im ganzen Land ansprach.169
Obgleich Emerson freimütig seine Bewunderung für Reed und Swedenborg erklärte, änderte sich seine Beziehung zu Swedenborgs Gedanken mit der Zeit. Auch wenn er stets eine enorme Bewunderung für die Weite und Tiefe seiner Ideen hegte und Swedenborgs Konzepte wie jene von Entsprechungen und Einströmen in seinem ganzen Leben weiter verwendete, betrachte er Swedenborg als inspiriert, doch nicht in der Weise, wie ihn Reed und die Neue Kirche sahen. Emerson trug von 1837 bis 1850 öffentlich über Swedenborg vor, und er schrieb einen bedeutenden Essay über ihn. 1850 fasste er seine öffentlichen Kommentare und Meinungen zu Swedenborg und dessen Ideen zusammen. Er hielt Kontakt zu anderen Swedenborgianern, darunter dem unabhängigen Freigeist Henry James der Ältere, der über mehrere Jahre ein begeisterter Unterstützer Swedenborgs war, obgleich er sich oft mit den orthodoxen, kirchenbezogenen Swedenborgianern im Streit befand. James half dabei, swedenborgianische Ideen innerhalb der wachsenden transzendentalistischen Bewegung durch seinen Kontakt zu Henry David Thoreau, Margeret Fuller und Theodore Parker zu verstärken. Viele andere Transzendentalisten waren im Hinblick auf Swedenborgs Anschauungen ebenfalls sehr belesen und durch sie beeinflusst, darunter etwa Bronson Alcott, James Freeman Clarke, James Elliot Cabot, Frederick Henry Hedge, Julia Ward Howe und Lydia Marie Child.170
Emerson hatte gemischte Gefühle bezüglich Swedenborg. Obwohl er ihn als einen der größten Geister ansah, die jemals gelebt hätten, und vieles im Hinblick auf dessen Philosophie und Kosmologie akzeptierte, konnte er Swedenborgs gesamte Theologie als solche dennoch nicht übernehmen.
1850 verfasste er Representative Men, Seven Lectures – einen Tribut an die Menschen, von denen er meinte, dass sie die bedeutendsten waren, die jemals gelebt hätten. Darin schrieb er auch ein langes Kapitel über Swedenborg. Emerson sah in der Moderne niemanden, der es Swedenborg gleich tun könne, und meinte, dass seine Ideen sich „[…] in den Verstand Tausender […]” verbreitet hätten. Er beschrieb Swedenborg als eine
„[…] gewaltige Seele, er liegt weit ab von seiner Zeit, von ihr unbegriffen und benötigte einen langen Zeitabstand, um verstanden zu werden.” 171
Emerson bewunderte Swedenborgs wissenschaftliche und theologische Arbeiten und stellte fest, dass
„[…] The Economy of the Animal Kingdom eines jener Bücher darstellt, das bei erhaltener Würde des Denkens eine Ehre für das Menschengeschlecht […] ” sei, 172 und weiter: „[…] The Animal Kingdom wurde zu dem hohen Zweck geschrieben, Wissenschaft und Seele, die lange voneinander entfremdet waren, wieder zusammenzubringen. Es behandelt den Zugang eines Anatomen zum Körper, wobei er den höchsten Stil der Poesie verwendet. Nichts vermag seine kühne und brillante Abhandlung bei einem derart trockenen und widerständigen Thema zu übertreffen.” 173
Emerson akzeptierte viele von Swedenborgs theologischen Ideen und erkannte, dass Swedenborg sein eigenes Selbst zurückgestellt habe, um eine erheblich‚ feinsinnigere Wissenschaft’ zu betreiben, die Raum und Zeit überschreiten könne und sich in den Bereich des Geistes wage. Dabei habe er eine neue Religion in der Welt errichtet, die alle Hochschulen der gewöhnlichen Wissenschaften überböte. Emerson lobte Swedenborgs Konzepte der Anwendung, der Abfolge unterschiedener Grade, des Menschen als Mikrokosmos des Himmels, des geistigen Wachsens bzw. der Regeneration, der ethischen Gesetze des natürlichen und geistigen Universums, der Verbindung von Geistigem und Natürlichem in jedem einzelnen Menschen, die Verbindung von Seele und Körper sowie insbesondere die Lehren von Korrespondenz und Einströmen. Die Lehre der Korrespondenz erkläre die Interaktion zwischen geistiger und materieller Dimension des Lebens, wobei sie gleichzeitig zeige, auf welche Weise jedes Individuum einen Kern göttlicher Empfänglichkeit umfasse. Emerson stellte zudem Swedenborgs Erklärung des göttlichen Gesetzes heraus, welches das physische und geistige Universum durchdringe: Dabei glaubte er, dass das Studium der ordnenden Gesetze eines Teils des Universums dabei helfe, selbiges als Ganzes zu erfassen. Daraus entspringe wiederum Swedenborgs Konzept von Einströmen und Regeneration. Es bestehe ein beständiges, von Gott ausgehendes Einströmen, das durch den geistigen in den natürlichen Aspekt hinein verlaufe und das Leben erhalte. Sofern jemand stärker auf die geistige Realität durch einen Prozess geistigen Wachsens eingestimmt sei, entwickele sich eine innere Harmonie zwischen der Ebene des Individuums und der höheren geistigen Existenzebene. Die Konzepte der Korrespondenz und des Einströmens waren zentral für Emersons metaphysische Vision.174
Emerson beschrieb Swedenborg als einen ‚Gesetzgeber der Menschheit’. Er betrachtete ihn als den letzten legitimen Fackelträger der echten Religion innerhalb der christlichen Tradition.175
„Swedenborgs stilisiert sich selbst auf der Titelseite seiner Bücher als ‚Knecht des Herrn Jesus Christus’ und die Kraft seines Intellekts sowie seine Wirkung machen ihn zum letzten Kirchenvater – und es ist nicht wahrscheinlich, dass er einen Nachfolger haben wird. Kein Wunder, dass die Tiefe seiner ethischen Weisheit ihm als Lehrer Einfluss verschaffen sollte. Im Blick auf die vertrocknete traditionelle Kirche, die lediglich einen trockenen Katechismus einbringt, fügt er wieder die Natur hinzu – und der Ehrfürchtige ist überrascht, wieder ein Teil des Ganzen seiner Religion zu sein. Seine Religion denkt für ihn und ist allgemein anwendbar. Er betrachtet sie aus sämtlichen Blickwinkeln. Sie passt zu jedem Teil des Lebens, interpretiert und ehrt alle Umstände.” 176
Auf der anderen Seite hatte Emerson jedoch auch Probleme mit Swedenborgs Lehren. Emerson konnte niemals die Auffassung akzeptieren, dass es eine oder mehrere Höllen gebe und er lehnte die Lehre ab, dass es diese den Himmeln gegenüber stünden. Emerson war demgegenüber davon überzeugt, dass die gesamte Menschheit sich in einem ständigen Zustand ewigen Fortschreitens befinde, und dass sich alles auf das Gute und Wahre hinbewege. Er konnte die Lehre nicht akzeptieren, dass ein Teil der Menschheit das Böse für die Ewigkeit wählen würde – und war daher überzeugt, dass es keine Hölle geben könne. In dieser Haltung nahm er die spiritistische Überzeugung vorweg, dass der Geist kontinuierlich fortschreite. Emerson spielte die Bedeutung der Aktivität der Engel herunter, insofern er sich ganz auf die Verbindung zwischen Gott und dem Individuum konzentrierte, wobei er Swedenborgs Botschaft betonte, dass man ‚Gott innen finden’ müsse. Er beschwerte sich ebenso vehement über Swedenborgs Stil und verglich diesen mit dem eines nicht besonders aufregenden wissenschaftlichen Vortrags, die der Darstellung höchst aufregender Einsichten in die Welt des Geistes und die innere Verfassung der Menschheit nicht entspreche.177
Читать дальше