Als Feldzeugmeister Potiorek im Wagen des Thronfolgers den Irrtum bemerkt, gibt er dem Chauffeur sofort Befehl, zu wenden, über den Appelkai weiterzufahren und erst beim Garnisonspital zu halten. Der Fahrer bremst ab und beginnt zu reversieren. Es folgen die dramatischen Sekunden jenes Augenblickes, der nicht nur ein glückliches Ehepaar plötzlich aus dem Leben reißt und drei Kinder zu Vollwaisen macht. Er löst eine Völkerschlacht aus, die 15 Millionen Menschen das Leben kostet und Österreich fast vollständig von der Landkarte verschwinden lässt.
An diesem warmen, schönen Sonntagvormittag steht der Attentäter Gavrilo Princip, mit einer Pistole bewaffnet, mitten unter den zahlreich die Straße säumenden Zuschauern. Hochrufe sind zu hören, winkende Menschen stehen in Gruppen, die meisten entlang der Häuserfront, wo die Bäume Schatten spenden. Weit weniger Zuseher sind auf der anderen Straßenseite zu sehen, entlang des Flusses. Dort brennt die Junisonne kräftig vom Himmel. Dem Attentäter scheint das nichts auszumachen. Hier kann er sich besser vorbereiten, ungehindert in Position stellen. Er wartet – und hat leichtes Spiel. Denn es gibt nach wie vor so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen. Die wenigen anwesenden serbischen Polizisten, für die gesamte Stadt gerade einmal 120 an der Zahl, machen keinen sehr wachsamen Eindruck. Auch haben der Erzherzog und seine Frau noch immer keine Leibwächter dabei. Heutzutage unvorstellbar!
Die letzte Fahrt beginnt.
Das Fahrzeug mit dem Thronfolger und der Herzogin von Hohenberg muss also kurz halten. Diese Sekunden genügen. Schüsse peitschen durch die Luft. Aus nicht einmal zwei Meter Entfernung schießt der junge Bosnier zweimal und trifft fatal genau. Erst die Bauchschlagader der Fürstin, dann mit dem nächsten Schuss den Erzherzog in die Halsschlagader. Sekundenlang sitzt das Thronfolgerpaar noch aufrecht im Wagen. »Um Gottes Willen, was ist Dir geschehen?«, soll Sophie ihren Mann, aus dessen Hals bereits Blut quillt, noch gefragt haben. Dann sinkt sie nach vorne, ihr Körper rutscht vom Sitz, und es sieht aus, als sei sie ohnmächtig geworden. Sophie, meine Urgroßmutter, stirbt.

Das Attentat (zeitgenössische Illustration)
»Sopherl, Sopherl, stirb mir nicht, bleib für unsere Kinder«, soll mein Urgroßvater geflüstert haben. Wenn man aber die schwere Verletzung (rechte große Halsschlagader zerrissen, Schilddrüse zerfetzt, Ringknorpel der Luftröhre zertrümmert) bedenkt, war dies schwer möglich. Verzweifelt gedacht haben mag er es indessen schon …
Der Erzherzog spürt, dass das Ende gekommen ist. Graf Harrach versucht, das Vorsinken des Kopfes des Thronfolgers, aus dessen Mund ein dünner Blutstrahl spritzt, zu verhindern, er stützt ihn durch Festhalten am Rockkragen und fragt: »Leiden Eure kaiserliche Hoheit sehr?« Franz Ferdinand soll einige Male, immer leiser werdend, das Bewusstsein verlierend, geflüstert haben: »Es ist nichts.« Auch diese Worte mögen vielleicht durch Lippenbewegungen angedeutet worden sein, ein hörbares Sprechen war mit der tödlichen Verletzung kaum noch möglich.
Meine Urgroßeltern verbluten innerhalb kürzester Zeit. Obwohl der Fahrer sofort reagiert und innerhalb von zwei Minuten beim Sitz des Landeschefs eintrifft, um dort die Erstversorgung in die Wege zu leiten, kommt jede ärztliche Hilfe zu spät. Die beiden leblosen Körper werden über die Treppe in den Konak hineingetragen, wo die Ärzte um 11.00 Uhr nur noch den Tod feststellen können. Die im Protokoll nüchtern festgehaltenen Todesursachen lauten: inneres Verbluten durch Eindringen eines 9-mm-Projektils in den Unterleib – in die Bauchaorta – der Herzogin von Hohenberg; Durchschlagen der Halsschlagader und der Luftröhre des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Wenig später wird die Aufbahrung der Verstorbenen veranlasst, kurz nach 11.00 Uhr sind bereits die ersten Totenglocken aus der katholischen Kathedrale zu hören.

Kurz nach dem Attentat spielten sich tumultartige Szenen ab.
Eine Verkettung unglückseliger und zum Teil auch mysteriöser Umstände führte zum alles entscheidenden, tödlichen Zwischenfall. Es gab und gibt bis heute eine Unzahl an Mutmaßungen, warum an jenem Schicksalstag das Fahrzeug des Thronfolgers genau vor die Mündung des Attentäters geriet. Oder geraten musste?
Fast unheimlich mutet es an, wenn man Vernehmungsprotokolle der Augenzeugen liest und sich des Eindruckes nicht erwehren kann, dass der Doppelmord leicht hätte verhindert werden können. Und dass ein Attentäter am Werk war, der weder als Soldat noch als Waffennarr bezeichnet werden kann. Der jedoch eine so tödliche Präzision an den Tag legte, wie sie selbst ein geübter Scharfschütze kaum zuwege gebracht hätte.

Der Bombenwerfer Nedeljko Čabrinović (+) wird von der Polizei abgeführt.
Die Mordwaffe: eine FN Browning 9 mm, Modell 1910
Es gibt zahlreiche, sehr genaue Augenzeugenberichte, die sich in vielen wichtigen Details decken. Zum Beispiel bezüglich der Tatsache, dass Gavrilo Princip nicht gezielt geschossen hat. Im ersten Moment wollte er eigentlich eine Bombe werfen, die er am Gürtel befestigt hatte. Weil es aber galt, rasch zu handeln, zog der Bursche statt- dessen seinen Revolver, wendete (nach eigener Aussage) dabei sogar den Kopf vom Fahrzeug ab und schoss in einem Winkel von 45 Grad blindlings zweimal drauflos.
Wenn man das Originalfahrzeug im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien genau betrachtet, bestätigt sich diese Angabe. Die Einschussöffnung ist rechts hinten, ungefähr dort, wo das Scharnier für das Verdeck verankert ist. Die Austrittsöffnung im Fahrzeug innen, in der Lederpolsterung, ist 10 cm weiter links. Die Richtung dieses Lochs bildet zum Einschuss einen Winkel von 45 Grad. Das Eisenblech der Verkleidung wurde vom Projektil in einem Ausmaß von 15 mm eingedrückt, der Schusskanal misst 10 mm im Durchmesser. Ein Loch von dieser Ausdehnung ist auch auf der Innenseite des Leders zu erkennen, an jener Stelle, an der Herzogin Sophie tödlich getroffen wurde.
Gavrilo Princip, Mörder des Thronfolgers und von Herzogin Sophie – ein 18-jähriger Maturant
Und dann? Bekannterweise gibt es einen Rückstoß, wenn ein Revolver beim Schuss mit nur einer Hand gehalten wird. Dieser Rückstoß reißt den Lauf der Waffe nach oben. Wenn in diesem Augenblick also noch einmal geschossen wird, muss das zweite Projektil zwangsläufig um einiges höher treffen als das erste. Genau so muss es gewesen sein. Der klein gewachsene Princip schießt nun also »hinauf« und trifft durch diesen weiteren tödlichen Zufall genau die Halsschlagader des Thronfolgers. Selbst mit modernen Waffen und Scharfschützen-Ausbildung wäre es heute fast unmöglich, in drei Sekunden eine solche Tat mit derart tödlicher Präzision auszuführen.
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