Immer in Bewegung sein, niemals die Hände in den Schoß legen – das war ein selbstverständliches Lebensmotto. Offen sein für Neues, aber Bewährtes erhalten. Konservativ bleiben, wo es Erziehung, Religion und Anstand erfordern – aber gleichzeitig Unbekanntes erforschen, Unbequemes wagen, Unpopuläres durchsetzen. Das könnte auch das Bild eines modernen Managers sein! Und genau das ist es auch, was Deine Faszination noch heute ausmacht. Du wirst nie vergessen sein, aber nicht nur wegen der Schüsse in Sarajevo. Du hast vorgelebt, dass man zu seinen Ideen und Vorstellungen stehen muss. Dass es sich auszahlt, für das zu kämpfen, was einem im Leben wirklich wichtig ist. Und dass der bequemste Weg nicht immer jener ist, der uns zum Ziel führt.
In diesem Sinne lasse ich Dich jetzt sozusagen zu Wort kommen und vor unserem geistigen Auge nochmals Gestalt annehmen. Die zahlreichen Briefe, Aufzeichnungen, Urkunden und authentischen Berichte aus Deiner Zeit – und auch von Dir selbst – erlauben mir, als Deine Urenkelin, eine sehr genaue Vorstellung davon, was Dir wohl durch den Kopf gegangen sein mag. Zum Beispiel an jenem verhängnisvollen Sommertag im Juni 1914 …
»Wir haben bereits 14 Minuten Verspätung, und ich beginne langsam, ungeduldig zu werden … Wozu haben wir einen Hof-Sonderzug, wenn wir den Zeitplan ohnedies nicht einhalten können? Wir hätten Bad Ilidza ohne Weiteres pünktlich verlassen können. Dort vorne ist endlich unser Ziel. 10.07 Uhr, wir sind vor der Kaserne. Ich sehe, unsere Wagen warten bereits. Das Umsteigen wird also hoffentlich rasch vonstatten gehen.«
So oder so ähnlich könnten die Gedanken meines Urgroßvaters, des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este, gewesen sein. Er ahnt zu diesem Zeitpunkt am 28. Juni 1914 nicht, dass die letzten Minuten seines Lebens bevorstehen. Er beginnt sie, indem er jenes Fahrzeug im Wagenkonvoi besteigt, das ihn in den Tod führen wird.
Juni 1914: Der sichtlich mit dem Manöververlauf zufriedene Erzherzog Franz Ferdinand zeigt sich leutselig.
Sehen Sie sich den berühmten Oldtimer genau an. Im überdachten Innenhof unseres Schlosses Artstetten steht eine maßstabgetreue Nachbildung des Todesfahrzeuges. Für damalige Verhältnisse ein tolles Gefährt: elegant, schwarz gepolsterte Ledersitze, Cabriolet, 3,5 Liter Hubraum und 32 Leistungs-PS; zwei Sitzreihen (die zweite allerdings besteht nur aus Klappsitzen) hinter dem Fahrer, Reservereifen seitlich an der Fahrertüre – ein Gräf & Stift mit dem Kennzeichen A III 118, der sich damals im Privatbesitz von Graf Franz Harrach befand. Das Originalfahrzeug steht im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien.
Und nun gehen Sie von rechts seitlich auf den Wagen zu. So, als wollten Sie die Türe öffnen und einsteigen. Etwa eineinhalb Meter davor bleiben Sie stehen. Blicken Sie auf die gepolsterte Rückbank und stellen Sie sich vor: Dort sitzt Franz Ferdinand, der Thronfolger, und rechts neben ihm seine über alles geliebte Sophie. Und nun versuchen Sie sich vorzustellen, dass draußen, direkt neben Ihnen, der Attentäter seine Hand mit der Pistole hebt …
Franz Ferdinand im Gespräch mit einem Offizier
Die knappe Stunde davor muss für Franz Ferdinand eine Mischung aus Routine und Aufregung gewesen sein. Sehr wahrscheinlich hat er zunächst ein erleichtertes Resümee gezogen, dass die absolvierten Manöver-Besuche in den Tagen zuvor trotz einiger heftiger Wetter-Kapriolen gut abgelaufen waren und nun das Ende der Bosnien-Reise nahte. Zufrieden mit der seit 26. Juni laufenden Heerschau, an der 22.000 Soldaten verschiedenster Nationalitäten teilgenommen hatten, sollte auch Kaiser Franz Joseph sein, in dessen Auftrag mein Urgroßvater die Truppen inspizierte. Franz Ferdinands Telegramm vom 27. Juni 1914 an seine Majestät in Bad Ischl war entsprechend positiv:
»Der Zustand der Truppen, ihre Ausbildung sowie ihre Leistungen waren ganz vorzüglich und über alles Lob erhaben […] beinahe keine Maroden, alles frisch und munter. Morgen besuche ich Sarajevo und reise abends ab. In tiefster Ergebenheit mich zu Füßen legend Euer Majestät untertänigster Franz.«
Das klingt zufrieden und mit sich und der Welt im Reinen. Die Manöver sind wie erhofft zu einer Art großer Heerschau des Habsburgerreiches geworden. Der Zweck der Bosnien-Reise ist also erfüllt. Da würde an sich nichts gegen eine sofortige Abreise Richtung Heimat sprechen. Doch das offizielle Programm sieht noch eine Stadtrundfahrt und ein Abschiedsessen vor. Gut gelaunt schickt der Thronfolger also am Morgen jenes verhängnisvollen 28. Juni an das älteste seiner drei Kinder, Tochter Sophie, ein kurzes Telegramm: »Befinden von mir und Mami sehr gut. Wetter warm und schön. Wir hatten gestern großes Diner und heute Vormittag den großen Empfang in Sarajevo. Nachmittags wieder großes Diner und dann Abreise auf der Viribus Unitis. Umarme Euch innigst. Dienstag. Papi.« ( Viribus unitis, lateinisch für »Mit vereinten Kräften«, ist der Name eines Schiffes.)
Der Thronfolger beobachtet mit Generalmajor Dr. Carl Bardolff (Chef der Militärkanzlei) den Verlauf des Manövers.
Nicht ganz so entspannt waren jene Berater meines Urgroßvaters, die noch kurz vor dem Sarajevo-Besuch ausdrücklich davor warnten. Conrad von Hötzendorf zum Beispiel, der österreichische Generalstabchef, verabschiedete sich mit den Herren in seiner Begleitung gleich nach dem Nachmittags-Diner im Hotel Bosna am 27. Juni. Er wurde zur Garnison-Inspektion in Karlovac erwartet. Das war ein guter Anlass für den Vorschlag einiger Begleiter Franz Ferdinands, sich Hötzendorf anzuschließen und ebenfalls sofort abzureisen. Was sprach schon dagegen?
Leider vor allem Feldzeugmeister Oskar Potiorek, Landeschef von Bosnien und der Herzegowina. Er hatte die gesamte Visite organisiert, und ihn wollte der Erzherzog nicht vor den Kopf stoßen. Oberstleutnant von Merizzi, der Adjutant Potioreks, sprach es offen aus: Eine Absage würde seinen Chef bestimmt kränken. Und sogar Sophie meinte, an den Präsidenten des bosnischen Landtages, Josip Sunaric, gewandt: »Lieber Sunaric […] wir sind überall im Lande, auch ausnahmslos von der serbischen Bevölkerung, so freundlich begrüßt worden und mit einer Herzlichkeit und ungeheuchelten Wärme, dass wir ganz glücklich darüber sind.« Bedeutungsschwer daraufhin Sunarics Antwort: »Hoheit, ich bitte Gott, dass, wenn ich morgen Abend die Ehre habe, Sie zu sehen, Sie mir dieselben Worte wiederholen können. Mir wird dann ein Stein vom Herzen gefallen sein, ein großer Stein!«
Der Erzherzog und Dr. Carl Bardolff
Vieles sprach dafür, vorzeitig die Heimreise anzutreten und froh zu sein, dass die Bosnien-Visite bis dato ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen war. Zum Beispiel die Tatsache, dass Attentate auf dem Balkan zur damaligen Zeit keine Seltenheit waren. Bereits in den Jahren zuvor waren österreichische Würdenträger des Öfteren mit Bomben attackiert worden. Stets stammten die Attentäter aus Bosnien. Sie waren dort zur Schule gegangen, emigrierten in das Königreich Serbien und traten in Belgrad der »Schwarzen Hand« bei, einer radikalen Geheimgesellschaft, die systematisch Hass auf alles Österreichisch-Ungarische schürte. Geleitet wurde sie von einem fanatischen Oberst namens Dragutin Dimitrijevic, bei seinen Anhängern unter dem Codenamen »Apis« bekannt (in Anspielung auf den ägyptischen Apis-Stierkult). Er machte aus jungen Männern nationalistisch verhetzte Spione und fanatische Attentats-Süchtige. Ihre Tätigkeit hatte nur ein Ziel: die Vereinigung aller Südslawen zu einem großserbischen Reich. Der künftige Herrscher Franz Ferdinand jedoch wäre solchen Plänen mit Sicherheit im Wege gestanden. Im Thronfolger sah der nationale Fanatiker »Apis« deshalb einen deklarierten Feind des Serbentums. So wie er dachten viele Serben.
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