Dazu kam die unglückselige Auswahl des Datums: Der 28. Juni war der Vidovdan, der Nationalgedenktag aller Serben. Am 28. Juni 1389 hatten die Serben durch die Niederlage gegen die Türken in der Schlacht auf dem Amselfeld ihre Freiheit für Jahrhunderte verloren. Ausgerechnet diesen Tag für den Sarajevo-Besuch auszuwählen, zeugt von der geringen Menschenkenntnis und wohl auch diplomatischen Unfähigkeit des Organisators Potiorek. Dies im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich zum Schutz des hohen Besuches kein Militär in Sarajevo befinden konnte, da die Soldaten ja samt und sonders für die Truppenübungen außerhalb der Stadt zusammengezogen waren. Zu guter Letzt war mein Urgroßvater auch noch bekannt für die Abneigung gegen Sicherheitsvorkehrungen, die seine Person betrafen. Legendär ein Ausspruch, den er an den Leiter seiner Militärkanzlei, Oberst Bardolff, gerichtet hatte: »Ihre Warnung ist gewiss berechtigt, aber unter einen Glassturz lasse ich mich nicht stellen. In Lebensgefahr sind wir immer. Man muss nur auf Gott vertrauen.«
Meine Urgroßeltern machen sich also auf den Weg. Auf dem Plan stehen Stadtrundfahrt, kurze Behörden-Besuche, Abschieds-Diner am frühen Nachmittag, und dann ist auch schon das Ende des Sarajevo-Besuches in Sicht. Sophie freut sich auf die Heimreise, vor allem auf die drei Kinder. Noch wenige Augenblicke vor dem Attentat sitzen Sophie und Franz Ferdinand relativ entspannt – er links in Generalsuniform, sie rechts im weißen Seidenkleid, lächelnd, mit Sonnenschirm – hinter dem Organisator des Besuchs, jenem Feldzeugmeister Potiorek, sowie dem stolzen Autobesitzer Graf Harrach. Vor ihnen Harrachs Chauffeur Leopold Loyka, neben diesem der Leibbüchsenspanner des Erzherzogs. Alle Insassen sind erstaunlich gefasst – obwohl bereits kurz vor dieser Aufnahme eine adaptierte Handgranate gegen den Fahrzeugkonvoi geschleudert worden war. Ein misslungener erster Attentatsversuch!
Ankunft in Sarajevo
Wenn heutzutage eine Granate oder gar Bombe in zivilem Umfeld explodiert, ist Feuer am Dach. Alarmstufe Rot, Zivilbevölkerung von den Straßen, Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, Entschärfungsdienst: Wer und was auch immer im Katastrophenfall organisiert werden kann, wird mobilisiert. Das Szenario von Sarajevo ist bei einem heutigen Staatsbesuch schwer vorstellbar. Moderne Sicherheitsvorkehrungen machen derlei Vorkommnisse fast unmöglich. Aber nur fast, man denke zum Beispiel an die niederländische Königin Beatrix und ihre Familie, die am 30. April 2009 bei der Parade zum Königinnentag in Apeldoorn knapp einem Mordanschlag entgingen. Ein Amokfahrer raste durch die jubelnde Menschenmenge auf den Bus der Monarchin zu und tötete dabei fünf Menschen. Er hat später angegeben, dass sein Ziel die königliche Familie gewesen sei.

Herzogin Sophie von Hohenberg wartet auf die Weiterfahrt mit dem Auto
Spätestens jetzt also, nach dem Detonieren der Handgranate unter einem der Fahrzeuge des Ehrenkonvois in Sarajevo, hätte jedermann klar sein müssen, dass »etwas im Busch« ist. Wenn es so weit kommen kann, dass bereits bei der Cumurija-Brücke, kurz nach 10.00 Uhr, ungehindert eine Art Bombe gegen den Konvoi geschleudert werden kann – wie steht es dann um die Sicherheit des Thronfolgers und seiner Frau?
Für diesen ersten Täter, den Schriftsetzer Nedeljko Čabrinović, war es ein Leichtes gewesen, aus dem Spalier der Menge zu treten, den Zünder auszulösen und den büchsenförmigen Gegenstand gegen den Wagen des Thronfolgers zu werfen. Die Zuschauer sahen nur einen kleinen, dunklen Gegenstand durch die Luft sausen, aber offenbar dachte niemand in diesem Augenblick an ernsthafte Gefahr. Dann gab es ein paar dramatische Momente: Die Bombe rollt vom zurückgeschlagenen Verdeck des Thronfolger-Fahrzeuges rückwärts auf die Straße und explodiert unter dem dritten Wagen. Die Kolonne stoppt. Große Aufregung, Geschrei, Gestank und Pulverdampf.
Auf der Fahrt zum Rathaus – kurz vor dem ersten Attentat
Ein Splitter der Sprengkapsel hinterlässt am Hals der Herzogin einen Kratzer, Oberstleutnant Merizzi wird am Kopf schwer verletzt und blutet stark. Er wird im nahe gelegenen Ambulatorium Dr. Löffler erstversorgt und dann sofort ins Garnisonspital gebracht. Die Menschenmenge ist geschockt, es ist ein Wunder, dass es nur wenige Verletzte gibt. Das mag auch daran liegen, dass es um diese Tageszeit bereits heiß ist und viele Zuschauer sich in Gruppen in den Schatten der Bäume am Straßenrand begeben haben.
Der junge Attentäter hat seinen Plan ausgeführt und will nun offenbar Plan B verwirklichen, seinen Selbstmord. Dazu springt er nach vollbrachter Tat über die Ufermauer in die Miljacka. Das weiße Pulver, mit dem er sich, im Fluss stehend und Flusswasser trinkend, vergiften wollte, hatte er in der Aufregung allerdings zuvor verstreut. Der Selbstmordversuch misslingt daher. Er wird festgenommen und den Behörden übergeben.
Für heutige Verhältnisse unvorstellbar: Der Konvoi setzt seinen Weg fort. Keine Rede von sofortiger Evakuierung der Insassen der Fahrzeuge. Kein ernsthafter Versuch, den offiziellen Teil des Besuches zu beenden und den Thronfolger mit seiner Frau in Sicherheit zu bringen. Nein, »business as usual« ist angesagt. Es geht weiter zum Rathaus. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Die letzten Schritte
Im Rathaus angekommen, unterbricht Franz Ferdinand, begreiflicherweise angesichts der Vorfälle nicht mehr ganz so entspannt wie vor Antritt der Stadtrundfahrt, die Rede des Bürgermeisters, der von Liebe und Ergebenheit der Bevölkerung zum allerhöchsten Herrscherhaus schwadroniert. Und der offenbar – wieder ein offensichtliches Versagen der Kommunikation an höchster Stelle – vom Attentatsversuch gar nichts mitbekommen hat: »Was hab ich von Ihren Reden – da kommt man zu Besuch in diese Stadt und wird mit Bomben empfangen. So, jetzt fahren Sie fort.«
Der Bürgermeister versteht noch immer nicht und bringt seine Rede irgendwie zu Ende. Unter den Honoratioren der Stadt herrscht Ratlosigkeit, wie es nun weitergehen soll. Seine Sophie würde der Erzherzog gerne in Sicherheit wissen, sie soll zurück nach Ilidza oder zumindest in den Konak, den Wohnsitz des Landeschefs, wo das Mittagessen stattfinden soll. Freundlich, aber dezidiert weist sie diesen Vorschlag zurück: »Solange der Erzherzog sich heute in der Öffentlichkeit zeigt, verlasse ich ihn nicht.«

Graf Franz Harrach als »Schutzschild« für den Thronfolger
Franz Ferdinand will den verletzten Oberstleutnant Merizzi im Spital besuchen, bevor man dem offiziellen Programm weiter folgt, das Landesmuseum besucht und dann als Abschluss ein spätes Mittagessen einnimmt. Die Wagen starten also. Oberst Bardolff gibt dem Chauffeur des ersten Wagens den Befehl, mit möglichst hoher Geschwindigkeit den Appelkai entlangzufahren, zum Garnisonspital. Nicht, wie ursprünglich geplant, durch die Franz-Joseph-Straße und durch den Stadtkern zum Konak. Und nun passiert’s, das Unglück nimmt seinen Lauf. Die beiden ersten Wagen biegen bei der Lateinerbrücke zur Franz-Joseph-Straße ab – falsch! Das wäre die ursprüngliche Route gewesen! Der Erzherzog will jedoch zum Garnisonspital. Der Wagen mit meinem Urgroßvater bleibt weisungsgemäß hinter den beiden ersten Fahrzeugen.
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