Beide Begriffe der Würde und der Person zusammengenommen sagen etwas über die Hochschätzung des Individuums aus, das nicht verzweckt und nicht aufgrund seiner Herkunft, Geschlecht, Alter diskriminiert werden darf. Diese Auffassung von der Menschenwürde, die jedem Menschen aus sich heraus zukommt und ihm nicht von außen zugeschrieben oder aberkannt werden kann, liegt vielen Gesetzen moderner Staaten zugrunde.
So lautet zum Beispiel Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes (und etwas anders in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 GG), und der zweite Artikel, der daraus folgt, lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ (Art. 2 GG). Der erste Artikel des Deutschen Grundgesetzes beinhaltet eine Selbstbeschränkung des Staates. Er hat sich selbst auferlegt, niemals mehr so tief und vernichtend in die menschliche Intimsphäre einzugreifen, wie es zum Beispiel im Nationalsozialismus geschehen ist. Folgerichtig ist im Artikel 2 das Recht auf Leben und körperliche sowie in der Grundrechte-Charta auf geistige Unversehrtheit festgehalten. Ging es bei den Tugenden des Aristoteles um die innere Haltung des Menschen, geht es bei Kant und der Menschenwürde darum, etwas „Absolutes“ im Menschen festzumachen, das ihm niemals genommen werden kann. Daher kann auch der Artikel über die Menschenwürde im Deutschen Grundgesetz selbst mit hundertprozentiger Mehrheit des Deutschen Bundestages nicht aufgehoben werden. Er hat „Ewigkeitscharakter“. Daher wird der Artikel 79, Abs. 3, des Deutschen Grundgesetzes auch als „Ewigkeitsklausel“ bezeichnet. Eine Änderung dieses Artikels 1 ist unzulässig.16
4. Judentum und Christentum
Bis hierher wurde die Herleitung des Begriffes der Menschenwürde vornehmlich philosophisch dargestellt. Dabei zeigte sich aber, dass im Hintergrund auch die Vorstellungen des Judentums von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie der christlichen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen eine Rolle spielten. Auch das christliche Gebot von der Nächsten- und Feindesliebe kommt im Kant’schen Begriff von der Achtung des Menschen um seiner selbst willen zum Ausdruck.
Im Folgenden soll nun dieser Hintergrund des Judentums noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, um dann überzuleiten zu den zentralen Aussagen des Christentums. Denn das Christentum ist ohne das Judentum nicht verstehbar. Etwa 1500 Jahre vor Christi Geburt findet ein interessanter Umbruch in der Weltgeschichte statt. Aus einem Vielgötterglauben, der auch in Israel herrschte, entwickelt sich langsam ein Ein-Gott-Glauben. Schon im Hinduismus und später in der griechischen Philosophie gab es einen solchen Vielgötterhimmel, von dem Feuerbach vermutlich sagen würde, dass diese Götter Projektionen des Menschen seien. So zeigt es sich auch in der Erfahrung des Volkes Israel. Sie spüren, dass die vielen Götter, die es auch in ihrer damaligen Glaubenswelt gab, eigentlich keine Kraft und Macht haben. Jetzt aber erfahren sie etwas ganz anderes, nämlich das machtvolle Wirken des einen Gottes, den sie Jahwe nennen. Sein Name darf nicht ausgesprochen werden und sie dürfen sich kein Bild von ihm machen. Aber er erweist sich als ein wirkmächtiger Gott. Er kann etwas. Er befreit das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. Mit starker Hand führt er das Volk aus der Unterdrückung Ägyptens heraus in die Freiheit.
So erlebt das Volk das mächtige Wirken Jahwes. Diese Erfahrungen werden aufgeschrieben in den Texten der fünf Bücher Mose und anderer Schriften. Diese Schriften, die über einen Zeitraum von achthundert Jahren entstanden sind, nennen die Christen das „Alte Testament“. Für viele Juden ist diese Bezeichnung nicht zutreffend, da es für sie kein „Neues Testament“ gibt. Sie warten bis heute auf das Kommen des Messias. Wenn er noch nicht da war, gibt es auch kein „Neues Testament“. Denn dort sind die Berichte über Jesus Christus, von dem die Christen glauben, dass er der Messias sei, aufgeschrieben.
Das Volk Israel erfährt also seinen Gott als jemanden, der zum Volk spricht und an ihm handelt. Er zeigt sich dem Moses in der Wüste. Moses sieht einen Dornbusch brennen, der nicht verbrennt. Er weiß nicht, was das bedeutet. Dann hört er eine Stimme, die spricht: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Ex 3,6), und dann später: „Ich habe die Klage meines Volkes gehört, ich will sie der Hand der Ägypter entreißen“ (Ex 3,8). Auf die Frage des Mose, wie er denn heiße, sagt er: „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Hier beginnt die sogenannte Selbstoffenbarung Gottes. Gott sagt etwas über sich selbst aus, frei interpretiert: Ja, es gibt mich. Ich bin da, ich bin für euch da (Ex 3,14). Er bestätigt, dass die Suche des Menschen nach dem letzten Grund allen Seins nicht sinnlos ist. Die Selbstoffenbarung Jahwes beginnt mit einer philosophischen Antwort auf die Frage des Menschen nach seiner Existenz. Er ist da, er tritt aus seiner Verborgenheit ans Licht, er spricht und handelt befreiend am Volk. So beginnt die Befreiungsgeschichte des Volkes Israel.
Für den Menschen bedeutet das, dass seine Suche nach dem ganz Anderen und Absoluten nicht ins Leere läuft. Anders gesagt: Das Absolute erweist sich als ein personales Gegenüber, dem der Mensch vertrauen kann. Allerdings „gibt“ es diesen Gott nicht so, wie es Menschen und Dinge gibt. Jahwe ist der „ganz Andere“ und der ferne Gott, von dem der Mensch sich kein Bild machen soll und dessen Name niemand aussprechen darf. „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“,17 hat Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) formuliert. Gott ist anders, er erscheint indirekt in dieser Welt, niemand hat Gott je gesehen, seine Macht ist groß. Wer Gott sieht, stirbt, heißt es im Alten Testament. „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20).
Möglicherweise war der Mensch erst in dieser weltgeschichtlichen Zeit in der Lage, überhaupt mit diesem mächtigen Gott in eine personale Beziehung zu treten. Er musste sich erst auf diese Begegnung hin entwickeln. Aber sehen durfte er ihn nicht. Offensichtlich ist die Macht Gottes, der diesen riesigen Kosmos geschaffen hat, zu groß, als dass der Mensch seine Nähe aushalten könnte. Hier spürt man, welche kosmischen Dimensionen im Spiel sind. Der griechische Begriff Ho Antropos für „Mensch“ deutet in eine ähnliche Richtung. Frei übersetzt bedeutet er: Der Mensch ist das Wesen, das schaut und staunt. Er steht aufrecht, schaut in den Himmel, sieht die Sterne und staunt über die Größe des Kosmos. Immanuel Kant hat es in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ sinngemäß so ausgedrückt: Was mich am meisten mit Ehrfurcht erfüllt, ist der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Diese gewaltige und zugleich stille Kraft des Kosmos deutet auf den Gott hin, der sich dem Menschen zuwendet. Dies geschieht zunächst aus der Ferne. Niemand hat Gott je gesehen, der Mensch soll sich kein Bild von ihm machen und nicht in seine kleine menschliche Vorstellungswelt pressen. Gott ist anders und größer. Das gilt bis heute.
Das Alte Testament ist ein Erfahrungsbericht von Menschen, die das Wirken Gottes im konkreten Leben erlebt haben. Es ist auch ein Bericht über die Vorstellung des Menschen von der Erschaffung der Welt, von der Entstehung des Menschen und seinem Abfall von Gott. Menschen berichten, inspiriert vom göttlichen Geist, wie sie glauben, dass Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat und aus dem Chaos Ordnung werden ließ. Tohuwabohu ist das hebräische Wort für Chaos. Aus dem Chaos wird Kosmos.
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