1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 »Ich werd den Doktor für dich holen. Tora, du bist ja wie von Sinnen.«
Tora sah auf, mit wilden Augen. »Ich bin nicht wie von Sinnen. Ich werd auch brav sein. Ich werd alles tun, was du willst, wenn du nur nicht …«
Das Kaffeewasser kochte über. Rakel stand auf, um es in Sicherheit zu bringen. Verschüttete mehrere Löffel Kaffee, als sie den Kaffee in den Kessel geben wollte. Hörte sich sagen: »Leg dich hin und ruh dich ein bisschen aus, Tora. Du bist müde. Ich trink derweilen meinen Kaffee hier hinten und schau in deine Bücher.«
Rakel blieb am Fenster stehen und sah hinaus, ziellos. Sie stellte die gesprungene Tasse auf die Fensterbank. Das Nachmittagslicht war bläulich. Eine einsame Lärche bewegte unruhig ihre Zweige gegen etwas Unsichtbares. Irgendjemand musste vor langer Zeit ein Loch in die Erde gegraben und den Baum gepflanzt haben. Ihn behütet, ihn zum Wachsen gebracht haben. Wie zum Trotz gegen die Natur. Allzu nahe am Pol. Vielleicht lag es an der Stärke des Baumes. Vielleicht war es die schwarze, umklammernde Liebe der Erde zu den Wurzeln.
Während sie die Lärche betrachtete, geschah es. Ein spröder Laut gegen die Fensterscheibe. Ein Picken. Einsam und von nirgendwoher, wie die Luft, die sie einatmete. Unglaublich, wie alles, womit wir uns umgeben, auf das Konto »Selbstverständlichkeit« geht!
Eine Goldammer klammerte sich an die schmale Kante des Fensters. Breitete die Flügel aus und streckte den kleinen, krummen Hals vor. Klopfte. Herzschläge gegen eine kalte Fensterscheibe. Poch, poch, poch.
Toras Gesicht glättete sich. Der Körper löste sich und war auf dem Sprung zum Fenster. Endlich hatte sie die Hände an den Fensterhaken. Der Vogel schwang sich einen Augenblick empor, als ob er das Ganze geplant hätte. Ein zitternder Propeller in der Luft. Tora öffnete das Fenster. Schnell. Als ob sie Übung darin hätte. Als ob sie die Haken geschmiert, alle Trägheit aus den morschen, winternassen Fensterrahmen entfernt hätte. Als ob das Leben genau auf diesen Augenblick eingestellt wäre. Sie ging zu der Brottüte, holte ein paar Brocken, kam zurück und legte sie vorsichtig auf das Fensterbrett. Der Vogel saß ruhig in der Lärche und wartete. Wartete? Konnte das möglich sein? Rakel bekam das sonderbare Gefühl, Zeugin einer Opferhandlung zu sein. Eines Rituals, mit ihr selbst als auserwählter Zeugin. Tora stand mit leuchtendem Gesicht da, während der Vogel ein paar Bissen aufpickte, zu seinem Zweig flog, zurückkam und noch ein paar Bissen holte.
Mehrmals wiederholte sich das. Dann blieb er ruhig in der Luft stehen und bewegte nur die Flügel. Eine Art Gruß. Tora hob die Hand. Dann war er fort.
Die Bröckchen lagen wie Brandmale auf dem Fensterbrett.
Rakels Schultern fielen herunter. Tora war wieder im Zimmer.
Sie wandte sich um und sah Rakel an. Nickte stumm. Dann schloss sie sorgfältig das Fenster.
»Er wird’s jetzt allein schaffen! Hast du’s gesehn?«
Rakel versuchte, in Toras Welt hineinzukommen. Sie nickte nur ein wenig mit dem Kopf.
Sie aßen Wurstbrote, die Rakel mitgebracht hatte. Dazu tranken sie Kaffee. Saßen an dem runden Tisch mit der Plüschdecke, die Arme ziemlich hoch, weil die Armlehnen der Sessel so hoch waren.
Rakel wartete. Etwas musste ja geschehen. Sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, Tora ohne weiteres zu verstehen. Spürte trotzdem intuitiv, dass sie auf dem richtigen Weg war.
»Frau Karlsen ist Witwe geworden«, sagte Tora schließlich und kaute nachdenklich. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen.
»Ja, ich hab’s gehört. Nimmt sie’s schwer?«
»Er war im Altersheim. Ich glaub nicht, dass sie’s versteht. Dass er tot ist, mein ich.«
»Das ist oft so. Als deine Großmutter starb …«
»Ich glaub nicht, dass wir sterben«, unterbrach Tora. Es war deutlich, dass sie nicht zuhörte.
»Das müssen wir alle, Tora.«
»Nein, ich glaub, das ist nur eine Lüge! Ich glaub, dass wir die ganze Zeit da sind, auch wenn wir uns nicht zeigen. Deswegen macht sich auch Elisifs Gott nicht die Mühe, den Henrik sterben zu lassen. Er ist ja doch da. Die ganze Zeit.«
Rakel setzte den einen Fuß, den sie auf den anderen gestellt hatte, auf den Boden, als ob er eine Sache wäre. Er stand einen Augenblick in der Luft. Die Hand, die eigentlich die Kaffeetasse zum Mund führen wollte, sank in den Schoß.
»Warum soll der Henrik nicht sterben?«, fragte sie mit steifen Lippen.
»Nein, er kann nicht sterben. Menschen wie er können nicht sterben … Aber das macht nichts – denn ich komm ja nicht nach Haus!«
»Weil du den Henrik nicht magst?«
»Niemand mag den Henrik.«
»Hör mal zu! Du brauchst den Henrik nicht zu mögen, auch wenn er mit deiner Mutter verheiratet ist. Du kannst deswegen ruhig nach Haus fahren. Du brauchst mit dem Henrik nicht mal zu reden. War er Weihnachten hässlich zu dir?«
»Nein. Ich war gemein.«
»Wie denn?«
»Ich hab die Kaffeetasse so weit weggestellt, dass er nicht drankam, denn er hatte ja den Fuß in Gips. Ich hab ihn nicht gestützt, wenn er Hilfe brauchte, um aufs Klo zu kommen.«
Tora grinste. Die Augen glänzten wie im Fieber.
»Warum, Tora?«
»Jemand muss das machen. Damit er versteht, dass er nicht sterben kann.«
Etwas Unheimliches kroch aus den Wänden, so dass es Rakel nasskalt über den Rücken lief.
»Sag endlich, warum du den Henrik nicht leiden kannst. Was hat er dir getan? Hat er dich geschlagen? Dir gedroht?«
»Alle wissen, dass er schlägt. Ich will nicht dahin. Ich muss den Vogel füttern.«
Tora vergrub ihre Finger in Rakels Windjacke, beugte sich vor und sah ihr in die Augen. Jemand hatte mehrere Kerzen tief drinnen hinter der Netzhaut angezündet. Nun flackerten sie im Wind. Wind woher?
Wie ein Kind. Ein kleines Kind, dachte Rakel. Tora ließ Rakels Jacke los. Lachte. Es hörte sich an, als ob Heftzwecken in einer Tabakbüchse klapperten.
»Alle wissen, was der Henrik tut, außer einer Sache.«
Tora schloss den Mund. Ganz fest. Schürzte die Lippen und wiegte sich hin und her.
»Was für eine Sache?«
»Er weiß nicht, dass er ein Vogeljunges hat. Er weiß nicht, dass die Vogelmutter um Brot an meinem Fenster bettelt. Er weiß nichts von sich selber.«
»Dass er ein Vogeljunges hat …?«
»Du hast doch den Vogel gesehn, nicht wahr? Er kam, obwohl du hier warst! Nicht wahr?«
»Ja, Tora, ich hab den Vogel gesehn. Kannste mir erklären, was der Henrik mit dem Vogel zu tun hat?«
»Er ist der Vater von dem Vogeljungen, verstehste das nich … Er ist zu groß, um der Vater von einem Vogel zu sein …«
Rakel versuchte klar zu sehen. Irgendetwas stimmte nicht mit der Tapete. Über dem Bett waren die Bahnen nicht richtig nebeneinandergeklebt. Das Samtmuster passte nicht aufeinander. Die Augen wanderten von der einen Tapetenbahn zur anderen.
»Halt mich nicht zum Narren, Tora.«
Toras Augen schauten durch Rakel hindurch. Die Stimme wurde eindringlich leise. Als ob sie einen Traum erzählte, der Eindruck auf sie gemacht hatte. Als ob sie von einem Buch berichtete, das sie gelesen hatte.
»Er war klein, verstehste. Schon blau. Niemand wusste davon, deshalb starb er einfach. Aber die Mutter trauerte …«
Dann erstarrte sie plötzlich. Rang nach Atem. Die Fäuste hämmerten auf den Sessel. Staub wirbelte auf. Ein alter, trockener Geruch ließ Rakel übel werden. Toras Augen waren voller Tränen, und aus der Kehle kamen irgendwelche Laute.
Rakel erhob sich und zog sie von dem Sessel hoch. Sie landeten alle beide auf dem Fußboden. Der Flickenteppich verrutschte unter ihnen. Das Nachmittagslicht war sparsam hier unten. Machte den Raum flach. Schob die Wände auseinander. Die Decke mit dem abscheulichen mehrarmigen Kronleuchter wurde drohend. Die vergilbten Bakelitschirme hatten von zu starken Birnen Risse bekommen. Rakel zählte die Schirme. Sechs.
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