Sie brachte den Aufsatz einigermaßen zuwege. Drei Seiten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie versuchte nicht einmal, das Ganze durch Abschnitte und Zwischenräume in die Länge zu ziehen. Ließ es sein. Am letzten Schultag vor Ostern bekam sie ihn zurück. Mit der Note »ausreichend«. Sie starrte fast ungläubig auf die Note. Der Kommentar des Norwegischlehrers war gehässig. Aber er äußerte kein Misstrauen, was ihr Fehlen während der Osterprüfungen betraf. Tora verbesserte in der Pause die Rechtschreibfehler und lieferte den Aufsatz wieder ab.
Die Norwegischnote war »befriedigend«. Sonst sah das Zeugnis gut aus. Sie war glimpflich davongekommen. Sie wurde nicht zusammengestaucht, und es wurde auch keine Unterschrift von zu Hause verlangt.
Da musste sie auch nicht nach Hause fahren. Sie hatte sich bereits entschlossen. In der Nacht vor Schulschluss. Während sie im Bett lag und sich ausstreckte und spürte, dass der Schlaf sich immer mehr zurückzog, und das Tageslicht sich immer deutlicher an den Vorhängen abzeichnete und die Konturen der Möbel und Dinge im Zimmer sichtbarer werden ließ.
Sie fühlte sich beinahe glücklich. So leicht war es also. Sich zu entschließen. Für eine lange Zeit nicht mehr auf die Insel. Vielleicht nie mehr. Ihn nie mehr sehen! Nie mehr die steilen Treppen zu den Räumen im Tausendheim hinaufgehen. Nie mehr den merkwürdigen Geruch im Treppenhaus wahrnehmen. Nie mehr gezwungen sein, mit ihm an einem Tisch zu sitzen.
Sie würde Ingrid schreiben. Sagen, dass sie Ostern woandershin wollte. Auf eine Hütte. Zusammen mit Freunden. Freundinnen. Sonst würde es ihr wohl nicht erlaubt werden. Die Idee war ihr in der Schule gekommen. Viele wollten auf eine Hütte. Und sie wollten alle zu Hause sagen, dass sie mit Freundinnen hinwollten. Machten aus, sich gegenseitig zu decken, falls gefragt wurde. Kicherten nervös und fühlten sich sehr erwachsen.
Der Brief wurde kurz. Ohne Schnickschnack. Bat nicht um Geld. Sie brachte ihn sofort zur Post.
Die Erleichterung machte sie schwindlig. Sie saß lange auf einem Stahlrohrstuhl in der Post, nachdem sie den Brief abgeliefert hatte. Der Postbeamte sah sie ganz seltsam an, und sie bekam Angst, dass er fragen würde, ob sie krank sei. Diese Frage ertrug sie nicht.
Dann ging sie in die Bibliothek. Lieh sich ein Netz voll Bücher aus. Sie kaufte Brot, Kaffee, Ziegenkäse und vier Eier. Trug alles zusammen hinauf in ihr Zimmer und setzte sich vor das offene Fenster, um den Vogel zu füttern. Sie hatte keinem Menschen erzählt, dass sie Ostern in Breiland bleiben werde. Alle hielten es für selbstverständlich, dass sie nach Hause fuhr.
In Sicherheit! Viele Stunden konnte sie hier mutterseelenallein sitzen, ohne dass jemand zu wissen brauchte, wo sie war.
Zehn Minuten nach vier schloss sie das Fenster, weil Frau Karlsen zu erwarten war. Die Vogelmutter kam nicht. Tora reckte sich nach allen Seiten, bevor sie das Fenster heranzog und die Haken einhängte. Die Bröckchen hatte sie hinaus in den Schnee gefegt. Sie waren gelbe Flecken da unten in all dem Weiß. Jeden Morgen waren sie fort. Sie hörte das Geschrei und Gekrächze der Krähen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Frau Karlsen entdecken würde, warum sich so gierige Vögel in der Nähe ihres Hauses aufhielten.
Tora schob den Gedanken von sich. Sie musste Kontakt zu der kleinen Vogelmutter bekommen. Erzählen, wohin sie das Junge gelegt hatte.
Rakel entschloss sich, nach Breiland zu fahren. Das komme so plötzlich, meinte Simon. Sie erklärte, dass sie Menschen sehen müsste, sonst würde sie ersticken. Alles sei so klein auf der Insel …
Ob das seine Schuld sei? Nein, versicherte sie ihm. Aber so leicht war er nicht zu überzeugen.
Schließlich musste sie mit der Sprache herausrücken, dass nämlich Ingrid ganz verzweifelt war, weil sie einen kurzen, kalten Brief von Tora bekommen hatte, in dem sie ihr mitteilte, dass sie Ostern nicht kommen werde, weil sie mit Freundinnen auf eine Hütte wolle.
Simon meinte, dass es doch prima sei, dass das Mädchen Freundinnen habe. Es sei doch wohl nicht schlimm, wenn sie Ostern nicht nach Hause komme. Rakel seufzte und gab ihm recht, aber sie bestand trotzdem darauf, nach Breiland zu fahren. Da könne sie nach Tora sehen. Ein bisschen allein sein. Ins Kino gehen. Sie habe Bauchweh, fügte sie hinzu. Da zog er den Kopf ein und sagte nichts mehr.
Rakel musste handeln, wenn die Gedanken sie plagten. Immer musste sie etwas tun. Sie war eben so.
Sie dachte darüber nach, was wohl der Grund für Toras Brief sein könnte. Ein Freund, von dem sie der Mutter nichts zu erzählen wagte? Nein, da hätte sie versucht, mit vielen Details, vielen Entschuldigungen eine Erklärung zu finden. Da hätte sie wahrscheinlich einen netten Brief mit überzeugenden Lügen geschrieben.
Simon brachte Rakel in dem kleinen Motorboot über den Fjord. Sie versprach, gleich nach ihrer Ankunft anzurufen. Stand da in ihrem neuen blauen Wollmantel, den sie beim letzten Besuch in Oslo gekauft hatte. Er war ein Schild gegen neugierige Augen, damit die Leute nicht ihren abgemagerten, kranken Körper sehen sollten, wenn sie in Været spazieren ging. Sie sollten nur nicken und sagen: Rakel Bekkejordet war in der Hauptstadt und hat sich einen neuen Mantel angeschafft …
Keiner sollte sehen, dass es eine Entschädigung für Schmerzen war.
Aber Simon wurde ganz weich bei ihrem Anblick. Er fuhr allein über den Fjord zurück und spürte immer noch ihren Duft. Mitten durch die salzige Gischt. Er drehte den Motor voll auf und stellte fest, dass er gut lief.
Der Bus fuhr um Millionen von Kurven und hielt ununterbrochen, so schien es Rakel. Sie hatte sich bereits überlegt, wie sie sich verhalten sollte, wenn sie nach Breiland kam. Sie wollte Frau Karlsen anrufen und nach Tora fragen. Dann wollte sie zu dem Haus gehen. Wenn niemand aufmachte, würde sie sich ein Hotelzimmer nehmen und das Weitere überdenken.
Es war grau in Breiland. Rakel hatte sich ein für alle Mal eine Meinung darüber gebildet. Seit sie erfahren hatte, dass sie zu Tests und Untersuchungen nach Breiland musste. Das war schon lange her. Trotzdem war der Grauton da. Ein für alle Mal. Sie brachte es nicht über sich, diesen Eindruck zu revidieren.
Der Ton im Telefon war auch grau. Es klingelte in einem Raum, den sie nicht sehen konnte. Niemand hob ab. Sie hatte es im Voraus gewusst. Sie knöpfte den Mantel zu, nahm die Reisetasche vom Boden auf und dankte der Verkäuferin dafür, dass sie das Telefon hatte benutzen dürfen.
Ging geradewegs hinaus in den bleigrauen Tag.
Das Haus fand sie leicht. Wusste ungefähr, wo es war. Es brannte Licht im Flur und in der ersten Etage. Ein gelber, ängstlicher Schein, der über alten Schnee floss. Da oben waren die Jalousien heruntergezogen. Ein Schild über der Messingklingel. Herrschaftlich. Trotz aller Kümmernisse konnte Rakel sich ein solches Schild in Bekkejordet vorstellen. An der Haustür: Simon und Rakel Bekkejordet. Nur um zu irritieren und zu verwirren. Und weil es ihr gefiel. Und weil es einfacher so wäre. Dazu dann die Klingel. Sie musste beinahe lachen.
Niemand öffnete. Sie zog einen Handschuh aus und benutzte den nackten Zeigefinger. Als ob das helfen würde. Ein Ritual, um die Menschen herbeizuzaubern. Sie spürte, wie das Geräusch sich von ihrer Fingerkuppe bis in das Haus fortpflanzte. Bis zu dem Zimmer, in dem Tora war. Ein Ruf, eine Ankündigung, dass sie, Rakel, gekommen war. Aber das Haus antwortete mit beleidigter Stille. Verwunschen und verschlossen.
Eine Bewegung da oben? Sie war sich nicht sicher. Sie klopfte laut an die Tür. Tat kund, dass sie sich nicht ohne weiteres zufriedengeben würde. Aber es geschah nichts. Sie überlegte, dass Tora vielleicht eine gewisse Zeit brauchte, um sich vorzubereiten. Nahm einen Bleistift aus der Handtasche und riss eine Seite aus dem Notizbuch heraus. Dann schrieb sie, dass sie da gewesen sei und wiederkommen werde. Schob den Zettel in den Türspalt und wandte sich zum Gehen.
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