Spätere Vertreter der Neoklassik haben zum Ziel, dem Keynesianismus ein eigenständiges makroökonomisches Modell entgegenzustellen und entwickeln den Monetarismus (ihr Hauptproponent ist Milton Friedman, 1912–2006). Demnach pumpe das nachfrageorientierte Modell von Keynes – also der Staat – zu viel Geld in den Umlauf, wodurch Inflation entstehe. In Anschluss an die klassische Quantitätstheorie hänge das Preisniveau von der Geldmenge ab. Daher könnten Wirtschaftsabläufe über Geldmengensteuerung (Kredite, Zinsen) reguliert werden. Diese Rolle kommt seit Mitte der 1970er Jahre den Zentralbanken zu. Ziel ist es, die Geldmengen entsprechend dem Produktionspotenzial stabil wachsen zu lassen, was letztlich auch zu konstant wachsenden Lohneinkommen führen würde. Ebenso wie die Gleichgewichtstheoretiker blenden die Monetaristen relevante Faktoren aus – nichtsdestotrotz strahlten ihre Empfehlungen aufgrund ihrer Machtposition, ihrer Präsenz in den Massenmedien und in der Wissenschaft auf die betriebliche Praxis aus. Staatliche Eingriffe, die über die Gewährleistung von Vertragsfreiheit, Freihandel und Sicherheit hinausgehen, lehnen sie als störend und ineffizient ab; demgegenüber sprechen sie sich für angebotsorientierte Maßnahmen aus, welche die Produktionsbedingungen verbessern sollen. Ihre Politikempfehlungen sind bestimmt von Anreizstrukturen über Geldpolitik sowie De-Regulierungsmaßnahmen und Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Seit den 1980er Jahren prägen sie auch in unseren Ländern die Wirtschaftspolitik.
Charakteristikum dessen, was wir heute Neoliberalismus nennen, ist insbesondere der Rückgriff auf den klassischen Laissez-faire-Liberalismus, was die Rolle des Staates betrifft. Der Nachtwächterstaat solle das ungestörte Wirken des Marktes sichern und mit der Bereitstellung von Infrastruktur (z. B. Verkehr, Telekommunikation, Energieversorgung, Bildung) ermöglichen bzw. ist man inzwischen dazu übergegangen, auch die öffentlich genutzte Infrastruktur zu »liberalisieren«, also nicht staatlich sondern privatwirtschaftlich zu betreiben. Die Ansicht, dass staatliche Regulierungen stören, mündete in Zeiten globaler Arbeitsteilung beispielsweise in die Erpressung von Steuerfreiheit als Lohn für die Ansiedlung von Produktionsstätten. Die Folge ist nicht der versprochene Trickle-down-Effekt (das langsame Durchsickern des Reichtums nach unten), sondern dass die Gewinne von den Konzernen vollständig abgezogen werden können; zurück bleiben leere Staatskassen und erschöpfte Beschäftigte. Die globale Wertschöpfungskette ist eine zu Gunsten der Kapital-Eigentümer.
In den mittlerweile stark globalisierten Vernetzungen liegen die Radikalisierung der Wachstumsschübe und Risikopotenziale des Neoliberalismus. Trotzdem bleibt der Einfluss der neoklassischen Theorien auf die Wirtschaftspolitik und die Realwirtschaft bis heute dominant, auch wenn Marxisten und jüngere Strömungen gegen die Neoklassik anschreiben und versuchen die blinden Flecken aufzuzeigen – z. B. unbezahlte Reproduktionsarbeit und herrschaftliche Geschlechterverhältnisse (Feminismus), globale Arbeitsteilung und hierarchische Machtverhältnisse (Globalisierungskritik; Regulationstheorie) oder Raubbau und wachsende Umweltprobleme (Nachhaltigkeitsforschung, Umweltaktivismus) – oder wenn sich die Politiker in der akuten Krise teilweise wieder auf Keynes rückbesinnen und Konjunkturpakete für »grüne« und herkömmliche Technologiebranchen schnüren (z. B. erneuerbare Energien, öffentlicher Verkehr).
Resümee: Arbeitsverhältnisse sind Gesellschaftsverhältnisse
Wir haben gezeigt, dass Arbeitslosigkeit und Armut systemimmanente Bestandteile einer kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft sind. Sie können weder von neoklassischen noch von keynesianischen Reformansätzen gelöst werden. Vielmehr nehmen sie ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung in Kauf bzw. finden aus ihrer Logik heraus für uns unbefriedigende Antworten, die zu keinen sozial- und umweltverträglichen Lösungen führen. Die Neoklassiker leugnen »unfreiwillige Arbeitslosigkeit« schlechthin ab und werben für eine Freiheit mit einer nicht einlösbaren Chancengleichheit – durch Individualisierung und Flexibilisierung sollen wir zur Selbstverwirklichung gelangen. Modelle keynesianischer Tradition sind nur auf den ersten Blick beruhigender – zur Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit wird eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet oder ein Grundeinkommen überlegt; es geht um ein Sockeleinkommen, damit niemand unter die Armutsgrenze rutschen muss. Eine tiefere Bestimmung bietet man den für die Produktion »Überflüssigen« aber nicht an. Stattdessen animiert man sie, sich weiter zu qualifizieren. Die Frage ist aber, wohin qualifizieren, wenn die entsprechenden Arbeitsplätze fehlen (Arbeitsplatzlücke) und Überproduktion keinen Sinn ergibt? Es erhärtet sich also der Verdacht, dass es nur darum geht den Schein zu wahren. In diesem Zynismus begründet sich das oben beschriebene allgemeine Unbehagen und die zunehmende Wut vieler Menschen7.
Vollbeschäftigung kann es in der kapitalistischen Produktionsweise nicht geben, Selbstregulationsfähigkeit des Marktes ist ein uneinlösbarer Mythos. Das Wachstumsdogma verstellt die Einsicht, dass Ungleichheit ein Instabilitätsfaktor ist, der nicht durch mehr vom Gleichen – nicht durch noch mehr Markt, nicht durch noch mehr Staat – ausgemerzt werden kann. Daher wird die Theorie für den Wandel der Arbeitswelt auch nicht aus einer rein wirtschaftstheoretischen Perspektive geschrieben werden können, weil sie sonst einem Zirkelschluss aufsitzt. Dementsprechend können wir sie auch nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen. Wenn wir der Problemlage theoretisch gerecht werden wollen, muss uns eine interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen. Manche Phänomene lassen sich mathematisch beschreiben (z. B. Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern), andere nicht (z. B. Rollenzuschreibung zur Rechtfertigung der Unterschiede oder überhaupt die strukturerhaltende Funktion unbezahlter Frauenarbeit im Haushalt für die kapitalistische Produktion und Reproduktion).
Die referierten ökonomischen Theorien tun so, als seien alle Wirtschaftssubjekte gleich stark. Holt man jedoch Macht als Analysekriterium herein, werden unterschiedliche Diskriminierungen (von Erwerbslosen, Frauen, Migranten, Menschen im globalen Süden) sichtbar, ohne die der Kapitalismus nicht funktionieren würde. Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaftsordnung bedingen sich gegenseitig. Ausgehend vom Feudalismus war dies ein relevanter Fortschritt und ein gewisser Akt der Befreiung aus Leibeigenschaft, Pachtwesen und anderen Formen unfreier Arbeit. Die alte Unfreiheit wurde jedoch gegen eine neue, diffizilere eingetauscht: Unsere Gegenüber sind anonyme Kapitalisten mit Machtkonzentrationen wie es sie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit gab.
Wir gehen davon aus, dass Menschen ihrem Wesen nach produktiv füreinander tätig sein wollen. Das können sie im herrschenden System aber nicht entfalten, weil sie der Gewinnmaximierung unterworfen sind. Daher stellt sich die zentrale Frage, welches System unseren menschlichen Bedürfnissen entspricht und nicht, wie wir dem System entsprechen können. »Es geht darum, den Zweck der Tätigkeit und das Maß der Verausgabung in ein Verhältnis zueinander zu bringen, dass fremdbestimmte Über- und Unterordnung der spannungsgeladenen Dimensionen von Tätigkeiten ausgeschlossen werden. Die Emanzipation der Menschen liegt demnach in der entwickelnden Verausgabung von Kraft zum gemeinschaftlich bestimmten Zweck« (Haug 2009). Daher kann es nicht darum gehen, die »Normalarbeitsverhältnisse« der Nachkriegsära zurück zu wünschen. Abgesehen davon, dass die Voraussetzungen historisch einmalig und damit nicht wiederholbar sind (z. B. Wiederaufbau), ist es wegen seiner emanzipatorischen Defizite und seines zerstörerischen Potenzials für Umwelt und Menschen nicht als idealtypisches Modell anzustreben.
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