Als Frauke und Josef an ihrem vom Vorbesitzer übernommenen Personal diese menschenverachtenden und für ihren Geschmack absolut unzumutbaren Zustände wahrnehmen, überlegen sie, wie sie dies umgehend ändern können. Sie hören sich um und erfahren, dass es in Huatajata, am Ufer des Titicacasees, seit 1911 einen von einer Mission der kanadischen Baptistenkirche realisierten Versuch gibt, eine traditionelle Hacienda in ein menschliches Unternehmen zu verwandeln. Sie fahren nach Huatajata und treffen dort auf Bruder Abelardo, einen einheimischen Missionsmitarbeiter, der an der Umgestaltung des Anwesens maßgeblich beteiligt ist.
„Ich finde es sehr löblich von Ihnen, Señor und Señora Rembowski, dass Sie sich für ein so nobles Vorhaben engagieren, nämlich eine Vermenschlichung der Arbeitsbedingungen für die armen Pongos in Angriff zu nehmen. Bedenken Sie dabei aber bitte, dass Sie mit Ihrer Aktion ein archaisches und bei allen Betroffenen tief verwurzeltes System angreifen. Es wird Ihnen schwerfallen, vor allem das Vertrauen der inzwischen von den Weißen über Jahrhunderte geschundenen und gedemütigten Indios zu gewinnen. Insbesondere machen Sie sich damit Ihre Nachbarn, die Hacenderos der Umgebung, ganz sicher zu erbitterten Feinden. In deren Augen verletzen Sie ein heiliges Tabu und begehen einen unverzeihlichen Frevel, müssen Ihre Nachbarn doch befürchten, dass die neu gewährte Freiheit für ihre Peones – ihre eigenen Pongos – ein schlechtes Beispiel sei. Ich weiß, wovon ich rede. Nicht nur einmal versuchte man, uns mit übelsten Mitteln – einmal wurde sogar ein Feuer gelegt – von unserem Vorhaben abzubringen. Glauben Sie mir, machen Sie sich auf alles gefasst!“
Während Josef noch über das soeben Erfahrene nachdenkt, fragt Frauke: „Hermano Abelardo, würden Sie uns helfen? Wir sprechen kein Aymara und die meisten unserer Leute haben keine Spanischkenntnisse. Wären Sie bereit, zu uns zu kommen, um ihnen das, was wir vorhaben, zu erklären?“
„Wenn ich Ihnen damit helfen kann, liebend gern, geschätzte Señora!“
Im Anschluss an das Gespräch führt Bruder Abelardo Josef und Frauke in seiner Modellfinca herum, erklärt alles und gibt ihnen viele Ratschläge. Tief beeindruckt von dem, was sie an diesem Tag gehört und gesehen haben, kehren die beiden beseelt und fest entschlossen, die erforderlichen Veränderungen auf ihrem Landgut unverzüglich in Angriff zu nehmen, spät in der Nacht nach La Paz zurück. „Du hattest den besten Einfall des Jahrhunderts, geliebte Frauke.“ Josef sah sie liebevoll an.
„Ohne die Hilfe des Hermano Abelardo stünden wir wie der Prediger in der Wüste da, nicht wahr?“
* * *
Kurze Zeit nach ihrem Ausflug nach Huatajata besucht Bruder Abelardo Josef und Frauke in La Paz. Von ihm erhalten sie weitere wertvolle Ratschläge für die beabsichtigte Umstellung der Arbeitsverhältnisse und die zukünftige Entlohnung ihrer dann eigenständigen Landarbeiter oder Peones, wie man sie von nun an nennen wird.
Am nächsten Tag begleitet Abelardo Josef nach Guayrapata. Alle dort ansässigen Indios und ihre Familien werden zu einer abendlichen Versammlung in die Casa Vieja eingeladen. Hermano Abelardo hält eine längere Ansprache auf Aymara und erklärt den Landarbeitern, dass sie ab sofort von ihren sämtlichen Altschulden an den vorherigen Patrón befreit seien. Wenn sie es wünschten, könnten sie schon am Monatsende ihre Arbeit auf der Hacienda ohne Behinderung beenden und beliebig wegziehen. Jene, die es dennoch vorzögen zu bleiben und weiterarbeiten wollten, könnten dies unter ab sofort erheblich verbesserten Bedingungen tun. Sie erhielten nunmehr einen schriftlichen Arbeitsvertrag für jeweils ein Jahr, der aber beliebig verlängert werden könne, solange Patrón und Peón dies für wünschenswert und angebracht hielten. In Zukunft werde jede von den Beschäftigten geleistete Arbeitsstunde gerecht entlohnt und jedem der angesammelte Lohn zweimal monatlich in bar ausbezahlt. Die je nach Bedarf vom Verwalter angeordnete Arbeitszeit betrage ab sofort maximal acht Stunden täglich an bis zu sechs Tagen in der Woche. Sonntage und Nationalfeiertage blieben grundsätzlich arbeitsfrei. Allerdings könne der Patrón jene Peones jeweils zum übernächsten Monatsende entlassen, die ihre Obliegenheiten nicht zufriedenstellend erfüllten. Sie dürften aber selbst dann noch zwei bis drei Monate in ihren Häusern wohnen, bis sie eine neue Bleibe gefunden hätten.
Die Zuhörer sind zunächst fassungslos. Doch schon bald kommt eine große Unruhe in der Zuhörerschaft auf und unter den Beteiligten erhebt sich eine lebhafte Diskussion.
Josef lässt sie eine Weile gewähren, dann ergreift er das Wort: „Mein liebes Personal! Wie ihr wisst, komme ich aus dem fernen Europa und bin hier, in eurem Land Bolivien, mit meiner Frau und meinen vielen Freunden sesshaft geworden. Wir haben erfahren, dass ihr mit den hiesigen Arbeitsbedingungen sehr unzufrieden, ja sogar sehr unglücklich seid. Auch wir finden eure bisherigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse menschenunwürdig und wollen diese deswegen ab sofort verbessern. Bitte, Hermano Abelardo, übersetzen Sie.“
Danach fährt Josef fort: „Aus diesem Grund möchten wir auch einiges auf der Hacienda umstellen. Neben den von Hermano Abelardo angekündigten Änderungen werden wir vor allem aber die bisherige Coca-Anpflanzung beenden. Wir wissen, welche Bedeutung diese Pflanze für Sie hat, aber wir müssen zukünftig andere Produkte erzeugen, die sich besser verkaufen lassen. Der Cocapreis ist so niedrig, weil alle Haciendas in den Yungas nur diese Blätter erzeugen. Um euch aber in Zukunft für eure Arbeit besser bezahlen zu können, werden wir schon bald unsere Hauptproduktion auf Kaffee umstellen. Unsere ersten Versuche waren sehr vielversprechend. Es besteht hier auf der Hacienda ja schon ein zwar noch bescheidener Cafetal, dessen Kaffeebäume uns jedoch bereits sehr ordentliche Ernten geliefert haben. Hiervon konnten wir uns sowohl selbst versorgen als auch eine gewisse Menge nach La Paz verkaufen. Für den Kaffee haben wir dort viel bessere Preise erzielt als für die Coca.“
Großes Palaver brandet auf, nachdem Bruder Abelardo übersetzt hat. Als er Bruchstücke davon aufgefangen hat, spricht er einige Worte in Josefs Ohr.
Der reagiert sofort: „Machen Sie sich aber um Ihren eigenen Bedarf an Cocablättern keine Sorgen: Wir lassen ein Cocal mit genügend Pflanzen bestehen, damit Sie sich versorgen können. Allerdings wird es Ihre Aufgabe sein, diese ab sofort in Ihrer Freizeit selbst zu pflegen und auch abzuernten. Der Schieferplattenhof vor der Casa Vieja steht Ihnen dafür allerdings nicht mehr zur Verfügung, denn er wird zukünftig für die Trocknung unserer Kaffeebohnen benötigt. Schaffen Sie sich also vor Ihren Häusern eine eigene Trocknungsfläche. Da wir also den Handel mit Coca einstellen, können wir nicht mehr wie bisher Ihre Überschüsse übernehmen und vergüten. Das gilt selbstverständlich nicht für Ihre anderen Erzeugnisse. Gern werden wir Ihnen Bohnen, Maiskolben, Yuca, Chirimoyas, Guayabas, Mangos, Bananenstauden und andere Früchte, die Sie selbst nicht benötigen, zu gerechten Marktpreisen abnehmen und diese unverzüglich in bar bezahlen.“
Santiago erhebt sich und fragt auf Spanisch, ob er das Wort ergreifen dürfe. Als es ihm gewährt wird, sagt er: „Ist ja alles sehr schön und gut, aber bisher durften wir mit unseren Familien bis ans Lebensende in unseren Ranchos wohnen bleiben, auch wenn wir zu alt waren, um noch für den Patrón zu arbeiten. Wie wird es jetzt sein, wenn wir alt sind und nicht mehr arbeiten können? Wo gehen wir dann hin und wovon sollen wir leben?“ Er wiederholt das soeben Gesagte auf Aymara und erntet damit großes Zustimmungsgemurmel.
„Hermano Abelardo“, antwortet Josef, „der aus Huatajata stammt, wo genau dieselben Arbeitsbedingungen eingeführt und erfolgreich angewendet werden, berichtet uns, dass von jenen freien Peones, die dies ausdrücklich wünschen, ein kleiner Betrag des Gehaltes einbehalten und auf ein Sparkonto bei der Bank einbezahlt wird, damit die Arbeiter für ihr Alter vorsorgen. Deren Arbeitsverträge gelten bis zum 65. Lebensjahr. Danach dürfen sie das ihnen vertraglich zugeteilte Haus mit Landstück weiterhin unentgeltlich bis zu ihrem Tode sowie dem der Witwe weiter bewohnen und wie bisher nutzen.“
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