In lang gezogenen Serpentinen windet sich die steile, einspurige und kurvenreiche, mit losem Schotter bepflasterte Autostraße den Hang hinauf. Mühevoll kriecht der Kleinbus die fünfundzwanzig endlos scheinenden Kilometer bis zur Cumbre hinauf, dem auf etwa 4.200 Metern Höhe gelegenen Pass. Fühlbare Kälte dringt in den unbeheizten Fahrgastraum des Colectivos, abgestrahlt von den mächtigen, mit ewigem Schnee bedeckten Fünf- und Sechstausendern. Der Beifahrer, ein Indiojüngling, verteilt Pappbecher an die Reisenden, die er daraufhin mit Mate de Coca aus Thermosflaschen befüllt. Wie ihnen bereits von der Bahnfahrt von Arica nach La Paz bekannt ist, ist der heiße Aufguss nicht nur ein probates Mittel gegen das Unwohlsein in dieser Höhe, sondern er wärmt zugleich die frierenden Hände. Oliver und Lissy bekommen zusammen einen Becher, aber Lissy verweigert den bitteren Trunk. Dennoch achtet Clarissa darauf, dass Oliver nicht mehr als die Hälfte des Bechers leer trinkt.
Im weiteren Streckenverlauf schlängelt sich die Autostraße im Angesicht der imposanten Anden in ebenso engen Haarnadelkurven sechzig Kilometer bis auf 1.200 Meter über Meereshöhe steil hinab in jene feuchte und subtropische Gegend, in der die Malaria als unbesiegte Herrscherin thront. Treffen hier zwei entgegenkommende Camiones – Lkws – aufeinander, muss der talwärts Fahrende bis zur nächsten Ausweichstelle rückwärts kriechen.
Nach einer weiteren Fahrstunde befinden sie sich etwa 800 Meter tiefer und der Fahrer des Colectivos macht zur Mittagspause Halt in der kleinen Ortschaft Unduavi. Hier befindet sich ein weiterer polizeilicher Kontrollpunkt und hier ist die Aduana de la Coca ansässig, die amtliche Zollstelle, an der für die aus den Yungas heraustransportierten Cocablätter der entsprechende Impuesto – Tribut – zu leisten ist.
Während der Pause knabbert Oliver genüsslich an einer mit pikanter Ajísauce gewürzten Hühnerkeule; Clarissa und Lissy hingegen verzichten auf das scharfe Essen und begnügen sich mit den mitgebrachten Butterbroten und den hart gekochten Eiern.
An diesem Ort gabelt sich die Straße in die beiden Routen zu dem Nord- und dem Südyungas, welchem unser Colectivo nun folgt. Weiter geht die Reise durch eine beeindruckende Szenerie in immer tiefer gelegene und zunehmend bewaldete Regionen. Hier und dort stürzen aus den weiter oben gelegenen Felsen anmutende Wasserfälle wie silberne Pfeile. Diese münden in die einige Hundert Meter tiefer in engen Tälern gelegenen wild rauschenden Flüsse.
Dann, plötzlich – eine abrupte Vollbremsung in unmittelbarer Nähe des Kühlers eines entgegenkommenden Lastwagens. Der junge Beifahrer springt aus dem Fahrzeug und weist dem Busfahrer die sicherste Spur bis zur nächsten Ausweichstelle, zu der sie im Schritttempo rückwärtsfahren. Erschreckt blickt Clarissa aus dem Fenster in den direkt neben dem Colectivo beginnenden, endlos tief erscheinenden Abgrund. Im Zeitlupentempo schleicht der entgegenkommende Lastwagen vorbei, bis die Gefahr gebannt ist.
Schon fast sieben Stunden lang dauert die Fahrt und die Kinder werden immer ungeduldiger. „Wann sind wir endlich da, Mami?“, fragt Lissy alle paar Minuten.
Zunehmend unruhiger geworden, verfolgen auch Oliver und Clarissa mit den Augen jedes neben der Autostraße stehende weiße Haus. „Hat uns der Fahrer vielleicht vergessen?“, fragt Oliver seine Mutter besorgt.
„Geh doch hin und frag ihn“, antwortet Clarissa, denn auch sie ist verunsichert.
„Señor, por favor, la casa blanca?“, fragt Oliver den Chauffeur.
„En 10 minutos, más o menos.“
Immer wieder dieses „más o menos“, sinniert Clarissa amüsiert. Man hört es hier ständig. Es bedeutet so viel wie „mehr oder weniger“ aber eher „Nichts genaues weiß man nicht“, wie wir bei uns sagen würden.
Kurz darauf verlangsamt der Kleinbus die Fahrt und überquert sehr behutsam die ächzende Holzbrücke über einem darunter munter strömenden Fluss. Nachdem sie an der anderen Talseite noch etwa 500 Meter gefahren sind, kommt das Fahrzeug zum Stehen. Der Chauffeur blickt in den Rückspiegel und meldet zur Erlösung Clarissas und der Kinder: „Puente Villa, Señora, la casa blanca.“
Erleichtert und mit steifen Gliedern steigen die drei aus. Feuchte Hitze schwebt ihnen wie ein Hauch entgegen. Agil klettert der Indiojüngling auf das Dach des Colectivos und reicht Clarissa das Gepäck herunter. Clarissa bedankt sich beim Fahrer, drückt ihm 5 Bolivianos in die Hand und gibt schließlich auch dem „chico“ 2 Bolivianos.
Mit einem strahlenden Lächeln kommt ihnen Hans Adler, ein strahlender, robust und jugendlich wirkender Vierziger, entgegen. „Bienvenidos, willkommen in unserem schönen Yungas, junge Frau, und auch ihr seid willkommen, liebe Kinder.“ Er begleitet sie zur weiß getünchten, im Schatten liegenden kleinen Hütte, wo sie von einem bereits etwas älter wirkenden Indio ebenfalls freundlich begrüßt werden. „Mariano ist zwar erst fünfunddreißig Jahre alt“, erläutert Herr Adler und antwortet damit auf die in Clarissas Miene liegende stumme Frage, „jedoch ist er wegen der tückischen Terciana, eine hier grassierende, besonders schwere Abart der Malaria, die bei ihm regelmäßig alle drei Tage starke Fieberanfälle auslöst, derart auffällig gealtert. Zudem sind seine Pupillenränder gelb anstatt, wie üblich, weiß gefärbt.“
Ziemlich erschüttert von dieser Aussage sieht sich Clarissa im Miniladen um: Offene Säcke mit getrockneten Cocablättern, gelben Erbsen, Saubohnen, Reis und Nudeln stehen am Boden; Sardinenkonserven, Getränkeflaschen und Zigaretten füllen die Regale. Neben dem Eingang fallen ihr die dort lagernden grünen Bananenstauden auf.
Marianos Frau öffnet Bier- und Coca-Cola-Flaschen und serviert Clarissa und den Kindern die lauwarmen Getränke in emaillierten Blechbechern. Für die Kinder gibt es Kekse dazu.
„Tja, liebe Frau Keller“, sagt Hans Adler, nachdem sie getrunken haben, „wir müssen uns wohl oder übel noch so lange gedulden, bis Ihr Mann und der Patrón mit seiner Frau ebenfalls hier eintreffen.“ Dann geht er mit ihnen an die Tür der Hütte und deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Dort drüben stehen unsere treuen Mulas, die uns nachher zur Hacienda bringen werden.“
In freudiger Erwartung blickt Oliver auf die zehn in einer Reihe angeleinten Maultiere, die mit regelmäßigem Stampfen der Hufe und rundum schlagendem Schweif wiederholt versuchen, lästige Fliegen und Mücken loszuwerden, die sie umschwärmen. Skeptisch beäugen dagegen Clarissa und die kleine Lissy diese Tiere. Die Ankündigung Herrn Adlers will ihnen gar nicht so recht gefallen.
Einige Stunden sind inzwischen vergangen. Zahlreiche bis oberhalb des Gitterrandes mit Waren beladene und mit einheimischen Fahrgästen besetzte Camiones sind bereits an der Casa Blanca vorbeigefahren, ohne jedoch die erwarteten Nachkommenden abzusetzen. Als Clarissa diesen hiesigen, offenbar allgemein üblichen Reisemodus beobachtet, ist sie im Nachhinein sehr froh, wenigstens bis hierher mit dem Colectivo gefahren zu sein.
Hans Adler hält einen der Lastwagen an und erkundigt sich beim Fahrer, ob er irgendetwas von den drei Gringos bemerkt oder sie gar gesehen habe. Dieser bejaht, er habe besagte Ausländer, zwei Männer und eine Frau, bei der Abfahrt aus La Paz gesehen, als sie mit einem Kollegen verhandelten. Er wisse aber, dass dieser noch nicht seine gesamte Ladung beisammen hatte und deswegen wohl erst später kommen werde.
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