1 ...7 8 9 11 12 13 ...25 Aber es ist nicht so, dass hier, auf diesem Erdteil, alles mit dem Eintreffen der Spanier begann, nein, durchaus nicht. Es existierte auf dem amerikanischen Kontinent schon seit vielen Jahrhunderten die sogenannte Präkolumbianische Ära. Während die Europäer sich noch im dunkelsten Mittelalter befanden, waren es die Inkas, unter deren Herrschaft bereits die umfangreiche Zivilisation Südamerikas in den für uns bedeutsamen, hiesigen Gebieten der Anden entstand. Deren gesamtes Reichs-Territorium, das sogenannte Tahuantinsuyo, umfasste vier Suyos oder Teilgebiete im Norden, Osten, Süden und Westen. Die unsere, die südliche Region, nannte sich Collasuyo.
Der bedeutendste Gebieter oder Inka war nicht unbedingt ein erstgeborener Nachkomme des vorherigen Herrschers, sondern wurde wegen seiner besonderen Eigenschaften als Regent gewählt. Nach seiner Wahl hielt er sich stets fernab von seinen Untertanen. Alles, was mit ihm in Berührung kam, betrachtete man als heilig. Getragen wurde er in einer Sänfte, denn eine Bodenberührung hätte, bedingt durch seine Heiligkeit, unweigerliche Katastrophen auf der Erde verursacht. Neben dem Inka gab es noch einen ihm beigeordneten Landesverweser, der sich um die üblichen Regierungsgeschäfte zu kümmern hatte.
Gemäß der Legende wurde das Imperium durch den ersten Inka, Manco Cápac, ein vom Sonnengott Inti Entsandter, begründet. Er entstieg dem Lago Titicaca in Begleitung seiner Ehefrau, Mama Ocllo, und gründete die Reichshauptstadt Cuzco, heute in Perú. Ungefähr ein Dutzend Inkas regierten schließlich nacheinander das Imperium bis zur Ankunft der spanischen Conquistadores Francisco Pizarro und Diego de Almagro im Jahre 1532. Der Krieger Atahualpa hatte seinen Bruder Huascar durch einen militärischen Coup aus dem Amt verdrängt und sich selbst als Inka inthronisiert. Später ließ er den Bruder sogar ermorden.
Die von Atahualpa ausgesandten Späher überwachten die 168 mit Pizarro in Tumbes angelandeten Soldaten, von denen 37 beritten waren, bei ihrem Vormarsch. Sie berichteten ihrem Herrscher, dass es sich wohl um weiße Götter handelte, die in Eisen gekleidet seien, auf wilden Monstern ritten und sehr laute, feuerspuckende Stäbe mit sich führten. Der Inka hielt dies für ein gutes Omen und sandte ihnen Emissäre entgegen, um die Götter zu sich einzuladen. Diese falschen Götter waren aber zunächst von Reichtum und Kultur der Ureinwohner stark beeindruckt, ebenso wie von deren offensichtlich zahlreichen Streitkräften, über die ihr Herrscher verfügte. Allerdings war die primitive Bewaffnung der Inka-Armee mit Schleudern, Speeren und Piken derer der Spanier stark unterlegen. Diese zählten zudem auf die psychologische Wirkung, die ihre wild wiehernden und sich aufbäumenden Pferde sowie das ohrenbetäubende Krachen der Musketen unter den verschüchterten Indios verursachen würde.
Nach einer ersten Begegnung der Emissäre, bei der beiderseitig Geschenke ausgetauscht wurden, luden die Spanier den arglosen Inka Atahualpa zu einer Feier ein. Seine Präsente, darunter zwei wertvolle, große und massive Goldbecher, hatten die Gier der Eroberer nach noch mehr Reichtum geweckt. Man nahm den Inka gefangen und sperrte ihn kurzerhand in einem großen, dunklen Raum ein. Als ein Pfarrer ihm Bibel und Kruzifix hinhielt, nahm Atahualpa wortlos zunächst das eine, dann das andere in die Hand, schüttelte beides, hielt die Gegenstände an sein Ohr, und als er nichts wahrnahm, warf er sie despektierlich zu Boden. Seine ahnungslosen Gesten – in den Augen der Conquistadores ein unverzeihlicher Frevel – brachten ihre Wut zum Lodern und man wollte ihn auf der Stelle töten. Aber Pizarro gebot seinen Leuten Einhalt. Ein eilig einberufenes Inquisitionsgericht verurteilte den Monarchen wegen Brudermordes, Häresie, Beleidigung und Schändung von Heiligtümern der katholischen Kirche, wegen Irrglaubens und noch weiterer abstruser Beschuldigungen zum Tode auf dem Scheiterhaufen.
Über einen Dolmetscher, der sowohl etwas von der geläufigen Inka-Sprache – bis heute sind sich die Gelehrten nicht einig geworden, ob diese nun Aymara oder aber Quechua war – verstand als auch schlechtes Castilianisch sprach, bot Atahualpa den Eroberern als Lösegaben für sein Leben, seinen Gefängnisraum mit Gold bis zu jener Höhe zu füllen, die er auf Zehenspitzen erreichen konnte. Man schätzt den heutigen Gegenwert des angebotenen Lösegeldes auf etwa 600 Millionen US-Dollar.
Die Spanier gingen zunächst zum Schein auf das Angebot ein. Aus dem ganzen Tahuantinsuyo machten sich Abertausende von Trägern auf den Weg, die alle zusammengetragenen Goldgegenstände nach Cajamarca, dem Ort, an dem der Inka gefangen gehalten wurde, bringen sollten. Ein Feind Atahualpas verbreitete die Lüge, dass der Inka die ihm gewährte Frist für eine Rebellion gegen die Spanier nutzen wolle. Als ihm dies zu Ohren kam, ordnete Pizarro an, die Todesstrafe sofort zu vollstrecken. Da der Inka wegen der körperlichen Unversehrtheit seines Leichnams – gemäß seines Glaubens, die Bedingung für sein auf dem Tode folgendes, ewiges Leben – schließlich einwilligte, sich taufen zu lassen, wurde am 26. Juli 1533 die Todesstrafe anstatt auf dem Scheiterhaufen durch Strangulation mittels Knebel vollstreckt. Als den Trägern des Goldschatzes die Nachricht vom Tod ihres Inkas überbracht wurde, änderten sie schlagartig ihre Route. Wohin sie den sagenhaften Goldschatz verbrachten und wie und wo sie ihn versteckten, ist bis heute ein großes Geheimnis.
Unzählige Expeditionen aus allen Ländern der Erde suchen noch heute diesen immensen Goldschatz, der den geheimnisträchtigen Namen ‚El Dorado‘ trägt.
Ich glaube, fürs Erste dürften die geschilderten Grausamkeiten genügen, nicht wahr?“, versucht Heiko seine Zuhörerschaft aufzumuntern. „Hoffentlich könnt ihr dennoch in der heutigen Nacht ohne schlimme Träume gut schlafen. Das nächste Mal mehr von der Eroberung des Landes und der Plünderung der Indios durch die spanischen Conquistadores. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht!“
Für seinen ersten Teil des geschichtlichen Vortrages erntet Heiko einen wohlverdienten Applaus.
* * *
Während die Familie Keller sowie die übrigen Immigranten mehr schlecht als recht versuchen, sich mit ihrer neuen Heimat allmählich vertrauter zu machen, wohnen in ihnen allen die stete Unruhe und das Entsetzen über das Kriegsgeschehen in ihren ehemaligen Ursprungsländern. Mangels eigener Radioempfänger versammeln sich die Menschen täglich kurz vor zwölf Uhr mittags an der Pracht-Avenida 16. de Julio, allgemein als Prado bekannt, um den über Lautsprecher verbreiteten Weltnachrichten des Staatssenders Radio Illimani zu lauschen.
So erfahren sie nach und nach von den letzten furchtbaren Geschehnissen: die Teilung Frankreichs, Hitlers Befehl zum verstärkten Angriff auf Großbritannien durch Marine und Luftwaffe, der darauf folgende mörderische Luftkrieg über England, die Battle of Britain, die in dem Abschuss von achtundfünfzig Luftwaffen-Bombern gipfelt, die gezielte Zerstörung der deutschen See-Transportflotte durch die RAF-Flieger, die dadurch Hitlers geplante „Operation Seelöwe“ zum Landangriff auf England erfolgreich zunichtemachen, der Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und dem kaiserlichen Japan, die barbarische Auslöschung der Stadt Coventry durch die Bomben der Nazi-Luftwaffe und nicht zuletzt die bestialischen Massendeportationen der inzwischen völlig entrechteten jüdischen Bevölkerung aus allen von Deutschland besetzten Gebieten und deren systematische Ermordung in den dafür besonders eingerichteten „Endlösungs“-Konzentrationslagern.
Gelegentlich kommt es anlässlich der Nachrichten zu unangenehmen Begleitszenen. Offensichtlich haben es einige nazistisch eingestellte Deutsche darauf angelegt, die meist jüdischen Zuhörer zu provozieren und zu verhöhnen. Bei der Verkündigung deutscher Siege brechen sie in Jubelgeschrei aus und brüllen: „Sieg Heil, Sieg Heil! Juda, verrecke! Fuera con los Judíos (Raus mit den Juden)!“ Als sich dieses einige Male wiederholt und die so verunglimpften Juden, mit Schlagstöcken bewaffnet, die Provokateure schlagartig in die Flucht treiben, enden diese Szenen so rasch, wie sie begonnen haben.
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