Josef und Heiko beraten noch, wie und wo sie mit einer Bäckerei anfangen sollen. Hier gibt es üblicherweise nur einfaches, weißes Weizenbrot in Form von etwa 30 Zentimeter langen, krossen Marraquetas – oder die dunkleren und weichen, runden Brötchen, die Sarnitas. Heiko erzählte, dass das Rezept des Weizenbrotes einfach sei. Es bestehe lediglich aus fein gemahlenem Weizenmehl, ein wenig Hefe, lauwarmem Wasser und je einer Prise Salz und Zucker. Die Sorten Laugen-, Roggen-, Grau- oder Schwarzbrot kennt man hier überhaupt nicht. Die beiden rechnen also mit einem regen Absatz bei den inzwischen zahlreichen Neuankömmlingen aus Europa. Das größte Problem dürfte zunächst aber die Rohwarenbeschaffung sein, denn der Müllereibetrieb Molinera Nacional verarbeitet bislang ausschließlich importierten Weizen aus Argentinien und Uruguay. Von diesen Ländern, aber auch aus den USA kommend, erreichen ebenfalls viele Tonnen Weizenmehl das Land.
Es wird höchste Zeit, dass Oliver in die Schule kommt. Ich habe ja in den letzten beiden Jahren zu Hause regelmäßig mit ihm Schreiben und Rechnen geübt, weil wir nicht wollten, dass er in Oldenmoor in dem NS-infizierten Kindergarten indoktriniert wird. In diesem Jahr hätte er zu Ostern eingeschult werden müssen, durch unsere Ausreise blieb ihm dies jedoch erspart. Heiko hat sich umgehört. Es ist jetzt schon mitten im Schuljahr, denn dies fängt hier üblicherweise bereits Ende Februar, Anfang März an und geht bis zu den Sommerferien am Jahresende. Die öffentlichen Grundschulen sollen sehr primitiv und dürftig sein, für eine Privatschule fehlt uns allerdings das Geld, denn die sind unverhältnismäßig teuer. Außerdem kann Oliver ja noch nicht genügend Spanisch sprechen.
Zufällig trafen sich eines Tages Heiko und sein einstiger Zugabteilgefährte, Herr Levy, mittags am Prado, wo viele Emigranten den Zwölf-Uhr-Nachrichten aus aller Welt lauschen, die das Regierungsradio Illimani täglich über Lautsprechern sendet. Als bei der darauf folgenden Unterhaltung Olivers Schulproblem zur Sprache kam, bemerkte Herr Levy: „Sehen Sie dort hinüber, auf die andere Straßenseite, Herr Keller. Dort, das gelbe Eckhaus. Darin befindet sich neben unserer Synagoge auch die jüdische Schule, die öffentlich anerkannte Escuela Boliviano-Israelita. Ich habe mich nach meiner Ankunft sofort bei der jüdischen Gemeinde gemeldet und bin dort bereits in der Verwaltung tätig geworden. Wenn Sie möchten, könnte ich Sie mit dem Schuldirektor, Herrn Dr. Arthur Bamberger, bekannt machen, vielleicht kann er Ihnen behilflich sein. Wissen Sie, viele jüdische Kinder, die hier eingetroffen sind, befinden sich in der gleichen oder in einer ähnlichen Lage wie Ihr Oliver.“ Heiko bedankte sich und sicherte ihm zu, ihn nach Rücksprache mit mir wieder darauf anzusprechen.
Ich mache mir Sorgen um unsere Lieben zu Hause. Die Nachrichten über den furchtbaren Krieg, die uns tagtäglich hier erreichen, sind von Mal zu Mal erschreckender. Auch Frankreich wurde von der Wehrmacht besiegt, Paris ist in deutscher Hand und Hitler soll auch dort gewesen sein. Die französischen Generäle haben schon im letzten Monat kapituliert. Die dem Land zu Hilfe gekommenen britischen Streitkräfte wurden über Belgien bis ans Meer gejagt und konnten noch in letzter Minute von eigenen Schiffen aus Dünkirchen evakuiert werden.
Aus Oldenmoor selbst erfahren wir aber so gut wie nichts. Bolivien verhält sich zwar bis jetzt noch neutral, man hat, wohl wegen der vielen Deutschen, die hier leben und ziemlich großen Einfluss in der Wirtschaft und Politik haben, es von Regierungsseite vermieden, bisher in diesem Weltkonflikt Partei zu ergreifen. Dennoch existiert der Postverkehr mit Europa praktisch nicht mehr. Wir haben mehrfach versucht, Briefe an die Eltern zu schicken. Bisher haben wir aber nie eine Antwort erhalten. Wie mag es ihnen gehen? Ich bin jedes Mal furchtbar traurig, wenn ich an zu Hause denke.
Ich mache für heute Schluss, meine Hand ist schon ganz steif vom langen Schreiben.
Heute brachte Heiko zwei guten Nachrichten mit nach Hause: Oliver darf ab Montag zur Schule gehen und besucht die erste Klasse der Escuela Boliviano-Israelita. Nachdem das von Herrn Levy vermittelte Gespräch mit dem Rektor, Dr. Arthur Bamberger, stattgefunden hat, muss Oliver das gesamte bisher gelehrte Pensum – in Spanisch schreiben und lesen sowie rechnen – möglichst rasch nachholen. Heiko wird mit ihm das Sprachliche und ich das Rechnen üben, am besten gleich nach der Schule und an den Wochenenden. Armer Junge! Ihm stehen harte Zeiten bevor, aber er könnte es mit unserer Unterstützung schaffen. Das alltägliche Spanisch mit Pirulo geht ihm ja schon leicht von den Lippen. Sollte er allerdings das Jahrespensum nicht schaffen, müsste er das Jahr wiederholen, doch das wäre nicht so schlimm! Übrigens, die Schulen hier sind ganztägig, die Kinder kommen aber zum Mittagessen nach Hause. Also von Montag bis Freitag zwei Mal täglich zur Schule und zurück. Arme Kinder!
Und noch etwas Besonderes haben wir erfahren: Der jüdische Religionsunterricht findet in deutscher Sprache statt, da der Lehrer, Synagogenkantor Leopold Bremer, fast kein Spanisch, sondern nur Deutsch spricht. Er erteilt den Kindern auch Musikunterricht. Heiko fragte mich, ob ich denn etwas dagegen hätte, wenn Oliver am jüdischen Religionsunterricht teilnähme. Ich bin selbstverständlich damit einverstanden, schließlich kann es nicht schaden, wenn der Junge von Anfang an mit dem Alten Testament vertraut ist – ich wünschte, ich hätte auch eine solche Gelegenheit gehabt. Obwohl Heiko nach wie vor die Zugehörigkeit zu einer Religion kategorisch ablehnt, hat er ebenfalls nichts dagegen, denn er meint, auch dies gehöre unbedingt zur Allgemeinbildung.
Übrigens, für Lissy haben wir mit Frau Adrians Hilfe einen Platz in einem Kindergarten bekommen. Dieser gehört zu einem Waisenheim. Sinnigerweise trägt es den Namen „La Gota de Leche“ – „Der Milchtropfen“. Allerdings ist es etwas weit von unserer Casa Azul entfernt, befindet sich aber gleich neben der Endstation der Straßenbahnlinie Nr. 2, die zudem direkt an unserer Hauptstraßenecke hält. Ich habe erfahren, dass man hier für Kleinkinder vergünstigte Zehnerkarten erhält. In den ersten Wochen werde ich Lissy aber persönlich begleiten.
Die zweite gute Nachricht betrifft Heikos Arbeit. Da das Vorhaben mit dem eigenen Betrieb nur schleppend voranschreitet, hat Heiko mit dem bolivianischen Patrón einer hiesigen, mittelgroßen Bäckerei, Señor Espinoza, vereinbart, bei diesem als angestellter Bäckervorarbeiter anzufangen. Nach und nach will er dann mit dem Backen von deutschen Brotsorten beginnen und erst einmal sehen, wie diese einschlagen, bevor er und Josef in ein teureres, eigenes Unternehmen investieren. Die Bezahlung ist alles andere als üppig, denn die hiesigen Arbeitslöhne sind eher Hungerlöhne, aber es macht ihm nichts aus, sagt Heiko, es ist wenigstens ein Einstieg und bringt zumindest ein wenig Taschengeld.
Um die unter der hiesigen Bevölkerung bestehenden, sehr krassen Einkommensunterschiede wenigstens optisch ein wenig zu kaschieren, müssen alle Schülerinnen und Schüler an den öffentlichen Primarschulen im Unterricht einfache, weiße Kittel tragen. Also sind auch wir verpflichtet, unsere Kinder hiermit ausstatten.
Frauke machte den Vorschlag, Josef solle Oliver, Lissy und mich mit dem Auto zum Bekleidungsladen des Herrn Simon Dziubeck fahren. Er ist ein polnischer Jude, mit dem sie kurz nach der Ankunft in La Paz Bekanntschaft gemacht haben. Zum großen Spaß der Kinder fuhren wir also in Josefs Limousine in die Stadt. Als wir die Flaniermeile, den Prado, passierten, sagte Josef zu Oliver: „Sieh, dort, das gelbe Haus, darin befindet sich deine Schule.“ Im Vorbeifahren fielen mir das emporragende Gebäude der Tageszeitung „La Razón“ sowie das beachtenswerte Kolumbus-Monument aus weißem Marmor auf, das Heiko neulich bei einem Gespräch erwähnte.
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