Am Heiligen Abend besuchte die Familie Knieschitz traditionell den Festgottesdienst in der evangelischen Kirche am anderen Ende der Rothehausstraße, einem relativ jungen Kirchenbau.
Das aus roten Backsteinen errichtete Kirchengebäude war erst um 1880 fertig gestellt worden. Ihre beiden Bronzeglocken wurden leider in der allgemeinen Kriegsbegeisterung des ersten Weltkrieges 1917 eingeschmolzen und der Rüstung zur Verfügung gestellt, was allerdings vom Pastor und einem großen Teil der Ehrenfelder Kirchengemeinde heftig bedauert wurde, weil es für sie einen Widerspruch zur christlichen Weltanschauung darstellte.
Nach dem Abendessen fand die Bescherung statt, die für Katharina noch immer den Höhepunkt des Heiligen Abends bildete. Sie war genauso aufgeregt, wie vor Jahren, als sie als kleines Mädchen mit leuchtenden Augen dem Verteilen der Gaben entgegen gefiebert hatte. Unter dem Weihnachtsbaum standen drei »bunte Teller«, die mit Nüssen, Zuckerkringeln, Plätzchen, kleinen Süßigkeiten und Äpfeln gefüllt waren. Doch das Schönste, auf den bunten Tellern war für jeden ein Schokoladenweihnachtsmann, umwickelt mit farbenfrohem Stanniolpapier, wie in Vorkriegszeiten.
»Wo Mutter wohl all die schönen Dinge aufgetrieben haben mag?«, wunderte sich Katharina.
Anschließend beschäftigte sich jeder mit seinen Geschenken und Vater Knieschitz, der ganz selten rauchte, brannte sich zur Feier des Abends eine gute Zigarre an. Seine Frau liebte den Duft, aber sie erlaubte ihrem Mann nur zu Festtagen, in der Stube zu rauchen, zu sehr befürchtete sie, dass durch den Qualm ihre Gardinen grau würden.
Katharina hatte von ihren Eltern eine goldene Kette mit einem goldenen Kreuz bekommen. Es soll sie als Glücksbringer beschützen, und sie eines Tages wieder gesund nach Hause bringen, wünschte ihr die Mutter. Außerdem erhielt sie ein schönes Buch über die Sagen des Rheingaus, das sie auch in der Fremde an ihre Heimat erinnern soll.
Am ersten Weihnachtstag kam eine stattliche Gans auf den Tisch. Der Vater hatte sie von einem Kollegen bekommen, der in Bocklemünd-Mengenich wohnte.
Satte dreizehn Pfund wog der sattliche Vogel und Frau Knieschitz hatte ihn nicht in die Röhre bekommen.
Vater Knieschitz musste die Gans also zerlegen, damit sie in der Ofenröhre brutzeln konnte.
Das Tier hatte zudem so viel Fett, dass Frau Knieschitz sogar eine kleine Tonschüssel mit Gänseschmalz davon füllte.
Ein paar klein gehackte Apfelstücke, ein paar geröstete Zwiebelwürfel und eine Prise Majoran verfeinerten den Geschmack zusätzlich.
Onkel Herbert hatte seine alte Lebensfreude wiedergefunden und machte seinem Kölner Humor alle Ehre, indem er die Familie mit Witzen über Tünnes und Schäl in rheinischem Dialekt und fast identischer Stimmenimitation unterhielt.
Er hatte in den letzten Wochen bei der guten Pflege seiner Frau ein paar Kilo zugenommen und sah mit seinem runden rotbäckigen Gesicht und seiner Knollennase fast selbst wie Tünnes aus. Sogar seine rötlichen Haare machten das Bild stimmig.
Auch Tante Ida hatte der wiederhergestellte Familienfrieden gut getan. Katharina fand sogar, dass ihre Tante weniger Falten im Gesicht hatte als früher, aber vielleicht war das nur Einbildung.
Natürlich musste sie auch Onkel und Tante genauen Bericht über ihren neuen Wohnsitz und ihre Arbeit erstatten.
Anschließend wurde die momentane Situation diskutiert, in der sich die Stadt befand. War es gefährlich in Köln zu bleiben, sollte man versuchen, bei Bekannten in den Außenbezirken unterzukommen, doch was würde inzwischen mit der Wohnungseinrichtung geschehen? Viele Fragen wurden gestellt, doch für die wenigsten fand sich eine Antwort.
»Ich gehe nicht von hier weg«, stellte Paul klar. »Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht, da lasse ich mich nicht vom Tommy oder den Amis vertreiben.«
»Ja, ja, ist ja schon gut«, beschwichtigte seine Frau, »vielleicht lassen sie uns ja auch bald in Ruhe.«
»Das glaube ich nicht«, weissagte Onkel Herbert, »dafür haben unsere Truppen in England zu viel Unheil angerichtet. Wir können nur hoffen, dass wir mit heiler Haut davon kommen.«
»Ach, hört doch auf, über diese Dinge zu reden, es ist doch Weihnachten und vielleicht wird auch alles nicht so schlimm«, wollte Tante Ida das Thema beenden.
»Du hast recht, Ida! Soll ich uns Kaffee machen?«, entschärfte nun Mutter Knieschitz ihrerseits das Thema.
Vater Knieschitz nutzte die Gunst der Stunde und bot seinem Schwager eine Zigarre und einen Verdauungsschnaps an. Beides wurde von Herbert dankend angenommen.
Es erinnerte in dieser Familie an jenem Heiligen Abend wenig daran, dass sich Deutschland in einem gnadenlosen blutigen Krieg befand, der bereits über eine Million deutsche Soldaten gefordert hatte, doch es sprach niemand die Befürchtung aus, dass es das letzte gemeinsame Weihnachtsfest gewesen sein könnte.
Auch die folgenden zwei Weihnachtstage blieb die Bevölkerung Kölns von Bombenangriffen verschont.
Am Dienstag, dem neunundzwanzigsten Dezember, wurde die Familie allerdings auf den Boden der Realität zurückgeholt, denn gegen zwanzig Uhr schreckten die Sirenen die Einwohner Kölns auf, um sie vor einem Fliegerangriff zu warnen.
Obwohl Katharina die verheerenden Angriffe im Mai miterlebt hatte, und auch noch einige Angriffe danach, ehe sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle nach Loditten reiste, war sie inzwischen von der Ruhe in Ostpreußen so verwöhnt, dass sie plötzlich furchtbare Angst verspürte. Die Bewohner der Häuser in der Rothehausstraße hasteten die Treppen des Hauses hinunter, um sich im Luftschutzbunker am Neptunplatz, der sich ganz in der Nähe ihrer Straße befand, in Sicherheit zu bringen.
In den Händen hielten sie Taschen oder kleine Koffer mit den wichtigsten Unterlagen oder Familienerinnerungen, manchmal auch eine Decke oder ein Proviantpaket und die Kinder trugen ihre Lieblingspuppen oder Teddys in ihren Armen.
Auf den Straßen herrschten chaotische Zustände, Menschen rannten panisch durcheinander. Auch Elfriede und Katharina Knieschitz liefen ängstlich aus der Wohnung.
Frau Knieschitz hatte die Tasche mitgenommen, in der sie alle wichtigen Papiere, das Sparbuch und ihren Schmuck verstaut hatte. Paul Knieschitz schloss noch eilig die Wohnungstür ab, ehe auch er die Treppe hinab zum Bunker eilte.
Inzwischen strömten die Bewohner der umliegenden Häuser in die unterirdischen Schutzräume und besetzten natürlich die sichersten Plätze an den dicken Längsmauern. Auf der Straße versuchte der Luftschutzwart, mit dröhnender Stimme Ordnung in das Durcheinander der hastenden Menschen zu bringen. Er trieb die Massen lautstark an, geordnet im Bunker Schutz zu suchen.
Kaum waren die Leute in die Bunkerräume geeilt, da war das Dröhnen und das Heulen der Bomben und Luftminen zu vernehmen. In einem der hinteren Räume hatte die Nachbarin von Familie Knieschitz an einer Längsmauer zwei Plätze für Elfriede und Katharina freigehalten. Direkt neben ihnen war der Eingang zur Gasschleuse, durch den sie bei einem Giftgasangriff schlüpfen konnten. Die Männer nahmen in den vorderen Räumen Platz. Die Menschen saßen eng zusammengedrückt auf Holzbänken und hofften, dass der Feuersturm sie verschonen würde.
Die Flugzeuge warfen sogenannte »Christbäume« über der Stadt ab, die den nachfolgenden Bomberverbänden die Ziele ausleuchteten. Stabbrandbomben fielen auf die Stadt, fraßen sich durch Stahl und Beton und hinterließen keine Überlebenden. Wer ungeschoren geblieben war, der erstickte in den Kellerräumen, weil die Brandbomben den Kellern den Sauerstoff entzogen.
Der Luftschutzwart ließ die Stahltüren verriegeln, Nachzügler hatten nun keine Chance mehr, in den Bunker zu gelangen. Elfriede Knieschitz hatte sich ängstlich bei ihrer Tochter untergehakt und zitterte.
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