Nun baut sich Laura wieder neben mir auf und bittet ihn freundlich, zu gehen: „Leutnant Schmitt, abgetreten.“
An der Tür wendet er sich noch einmal zu einem militärischen Gruß, wobei sich mindestens ein Angelhaken in seinen Zeigefinger bohrt. Und das dermaßen fest, dass, als er die Hand wieder herunternimmt, der Schlapphut samt Toupet daran herunterhängt.
Traumhaft, dieses Bild!
Als wir dann zusammen zum Essen gehen, sagt Laura in einem ruhigen Moment: „Dieter, wenn du darüber reden willst, dann stehe ich dir jederzeit zur Verfügung.“
Was sie damit meint, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich danke ihr trotzdem mit einem Lächeln für das Angebot.
Den Rest des Arbeitstages verbringen wir damit, unseren Bericht zu verfassen und meine Unterlagen für den Hollandausflug vorzubereiten.
Als ich nach diesem ereignisreichen Tag endlich auf den heimatlichen Hof fahre, sehe ich im Nachbarhof eine Freiluft-Party-Location mit bunten Lampen, Girlanden, einem Grill und mehreren Festzeltgarnituren. Ich schaffe es auch nicht, ins Haus zu kommen, ohne dass Reiner mich abfängt.
„Dieter, endlich kommst du nach Hause“, empfängt er mich. „Wir machen ein Grillfest zu Ehren unseres Urlaubsgastes. Mensch, die hat in Frankfurt beste Beziehungen und will uns weiterempfehlen. Da müssen wir uns doch von unserer besten Seite zeigen. Also, komm gleich mit rüber.“
„Och, Reiner“, versuche ich mich herauszureden, „das passt mir heute gar nicht. Ich bin doch alleine, habe noch die ganze Hausarbeit und bin auch müde, ja, und zudem muss ich morgen ganz zeitig aus dem Haus.“
„Papperlapapp“, nutzt mein Nachbar den Sprachschatz meines Chefs, „ist doch keiner daheim, der dir Hausarbeit bereitet. Kochen brauchst du auch nichts, da es bei uns reichlich gibt. Und früher hat es dir auch nie etwas ausgemacht, wenn du morgens rausmusstest.“
Ja, früher, da war ich auch noch jung. Da konnte ich auch mal zwei Nächte durchfeiern. Zudem gab es früher keine Kordula mit ihrem Öko-Wahn. Das, was da heute Abend auf den Tisch kommt, ist sicher nicht nach meinem Geschmack. Sicher alles von Reiner Buttermilch.
„Jetzt hab dich nicht so“, lässt mein Nachbar nicht locker. „Der Domme kommt auch und bringt das Grillgut mit.“
Domme? Dominik Schäfer? Das ändert natürlich die Sachlage. Eigentlich ist er genauso ein Exot wie Reiner. Der Domme hat eine riesige Ziegenherde, mit der er durchs Land zieht und deren Fleisch etwas Besonderes wäre. Ich als Vegetarier weiß jedenfalls genau, dass sein Ziegenkäse der Hammer ist. Eine schöne Scheibe Bauernbrot mit zerlassenem Ziegenkäse auf Holzkohle gegrillt. Ein Traum. Ein absolut hammermäßiger Traum.
Also sag ich: „Gut, Reiner, du hast mich überzeugt. Lass mich schnell duschen gehen, dann komm ich rüber.“
So kommt es, dass ich eine halbe Stunde später zusammen mit Domme, seiner Frau Anke und zwei Ortsgemeinderäten auf einer Bierbank sitze. Reiner steht am Grill und wendet, was das Zeug hält. Ohne Scheiß, das riecht einfach saugut.
Einer der beiden Gemeinderäte sitzt da mit seinem grauen Anzug und dunkelblauer Fliege mit einem Zettel in der Hand. Da er lautlos seine Lippen bewegt, deutet alles darauf hin, dass er eine Rede einübt.
Der andere wiederum, im karierten Hemd und Knickerbocker, hat einen Stein Bier, in Bayern auch Maß genannt, vor sich stehen. An seinen Augen erkennt man, dass es nicht der erste für heute ist, und an der roten Knollennase erkennt man, dass es auch sicher nicht der letzte Stein Bier für heute sein wird.
Kordula trägt eine Salatschüssel nach der anderen herbei. Am Torbogen hängt eine Rheinland-Pfalz-Flagge herunter. Es wird reichlich durcheinandergeplappert und unser Gemeinderat im karierten Hemd stimmt fröhlich „Do wird die Wutz geschlacht“ an. Echte Volksfeststimmung beim Buttermilch.
Doch plötzlich wird alles still. Einen Moment glaube ich sogar, dass selbst das Brutzeln auf dem Grill verstummt. Als ich erschrocken aufsehe, bemerke ich, dass alle Personen in eine Art Starre verfallen sind. Alle schauen in die gleiche Richtung. Noch denke ich nicht daran, es den anderen gleichzutun, um keinesfalls auch in Hypnose zu verfallen. Doch meine Neugierde ist zu stark. Und so folge ich dem Blick meiner erstarrten Nebenmänner.
Dann sehe ich sie. Die unbestrittene Hauptperson des Abends. Im hautengen, knöchellangen Abendkleid. Mindestens drei Perlenketten um den Hals und eine Hochsteckfrisur, wie ich sie noch nicht gesehen habe. Eine Zigarette qualmt in einer zentimeterlangen Zigarettenspitze elegant vor sich hin. Als sie die Treppe herunterschwebt, gibt der beidseitige hüfthohe Schnitt im roten Kleid bei jeder Stufe den Blick auf ihre schwarzen Strapse frei.
Furchtbar! Ganz einfach furchtbar! Das tolle leuchtend rote Kleid, die schwarzen Netzstrapse und dann das weiße Bein mit deutlichen Dellen und Altersflecken. Jeans würde ich bei der Figur tragen. Ganz einfach Bluejeans. Das wäre passend, aber doch nicht so eine Operngarderobe fürs Grillfest auf dem Dorf.
Die anderen scheinen meine Meinung nicht zu teilen. Warum sonst sitzen sie immer noch mit offenen Mündern da und schauen Stufe für Stufe der Diva hinterher?
Als sie unten angekommen ist, erhebt sich die hypnotisierte Meute, um in einen kollektiven Applaus einzustimmen.
Unser Gemeinderat mit der Fliege unterm Kinn setzt nach dem Verstummen der Jubelrufe mit seiner Rede an: „Sehr verehrte, gnädige Frau. Es macht mich ausgesprochen glücklich, Sie im Namen der Ortsgemeinde Waldrohrbach begrüßen zu dürfen.“
Auch in den weiteren fünfundzwanzig Minuten wird diese Ansprache inhaltlich nicht interessanter. Einzig die Fliege macht das Ganze zum Schauspiel. Also nicht die unterm Kinn, sondern die, die ihm um den Kopf schwirrt und unermüdlich auf seiner Nase landet. Dort angekommen, wirkt sie wie eine tiefschwarze Warze, die sich bewegt. Anfangs versucht er mit Wischbewegungen das Tier zu verscheuchen. Na ja, im Laufe der Zeit werden die Bewegungen immer heftiger und der Redefluss immer weniger flüssig. Lange Rede, kurzer Sinn, die Sache endet damit, dass ihm eine tote Fliege auf einer blutenden Nase klebt, nachdem er sich selbst heftig geohrfeigt hat. Shit happens.
Die Frankfurter Diva stellt sich im Laufe des Abends als angenehme Gesprächspartnerin heraus, deren Alter unter der ganzen kosmetischen Gesichtsspachtel nicht zu erahnen ist. Die etwas unnatürlichen Gesichtszüge deuten jedenfalls darauf hin, dass sich hier auch schon so manch ein Schönheitschirurg ausgetobt hat. Meinen Geschlechtsgenossen gefällt’s. Sie flirten fleißig um die Wette. Unser Gemeinderat im karierten Hemd hält ihr die Hand und schmettert ein „Rosamunde, schenk mir dein Herz und sag ja“ durch die Nacht. Und das, obwohl sie Gerda heißt.
Was mich allerdings wundert, ist, dass sie bei der ganzen Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wird, immer das Gespräch mit mir sucht. Egal. Für mich ist es auf jeden Fall Zeit zum Schlafen. Morgen geht es in aller Herrgottsfrühe in die Niederlande und dann zu meiner Familie, bei der ich mich auch schon per SMS angekündigt habe. Glücklicherweise führe ich kein Tagebuch, denn da hätte ich wohl heute eine Menge zu schreiben. So komm ich nun direkt ins Bett.
Also, gute Nacht.
Papa, es war schrecklich, nachdem du gegangen bist. Nachdem du gefallen bist, bei deinem Kampf um die Freiheit. Sie sind alle gekommen. Egal ob Freund oder Feind. Sie kamen ins Haus. Einer nach dem anderen. Niemand hat gesehen, wie ich bin. Keiner der vielen Männer. Keiner der großen Kämpfer. Einen Körper haben sie in mir gesehen. Einen Körper, an dem sie ihre perversen Fantasien ausleben können. Stundenlang. Nächtelang. Einer nach dem anderen. Ich konnte das nicht mehr ertragen. So beschmutzt. So ausgenutzt. So erniedrigt.
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