Mit meinem Zeige- und Mittelfinger beginne ich auf das Mikrofon zu trommeln und rufe mit abgewendetem Kopf: „Der Empfang wird furchtbar schlecht. Ich bin ja bald vor Ort“, und lege auf. Geschafft. So schlecht hab ich mich doch gar nicht aus der Affäre gezogen. Auch das unerwünschte Publikum quittiert meine Spontanaktion mit tosendem Beifall.
Mit dem „bald vor Ort“ wird es erst mal nichts. Zehn Minuten später stehen wir wegen auf den Gleisen grasender Weidetiere auf freier Strecke. Kurz darauf gibt es einen Oberleitungsschaden und wieder etwas später müssen wir den Zugführer wechseln, da es dem bisherigen nun endgültig schlecht geworden ist. So kommen wir mit zweieinhalb Stunden Verspätung und vollgekotztem Führerhaus in Mannheim an. Da mein Reiseplan dadurch komplett aus dem Ruder gelaufen ist, bummle ich nun mit der Regionalbahn über Ludwigshafen, Schifferstadt, Haßloch, Neustadt an der Weinstraße Landau entgegen.
Als ich dort ankomme, bräuchte ich erst einmal eine Rasur, doch ich nehme ein Taxi zum Revier. Von dort aus starte ich mit einem alten Opel Kadett E Caravan Streifenwagen, der als Reservefahrzeug für Notfälle hier steht, in Richtung Silzer See. Eins muss man dem betagten Automobil lassen. Die serienmäßige Uhr geht nach wie vor präzise. Und die zeigt sechzehn Uhr achtundzwanzig an, als ich in Silz zum See abbiege. Wenn ich daran denke, dass ich für den Weg nach Köln im Wohnmobil gerade mal dreieinhalb Stunden gebraucht habe, muss ich schon sagen: „Vielen Dank, Deutsche Bahn AG.“
Kaum bin ich abgebogen, stehe ich auch schon an der Absperrung, die vom Kollegen Maier der Schutzpolizei bewacht wird. Er öffnet mir auch umgehend die Barken und deutet mir an, dass ich gleich vorne bei den restlichen Einsatzfahrzeugen parken kann. Nach dem Aussteigen orientiere ich mich zuerst mal.
Beim Abfluss sind Schwimmbarrieren angebracht, hinter denen die Feuerwehr auf Schlauchbooten beschäftigt ist, die Oberfläche abzusaugen. Weiter hinten sind auch noch einige Spurensicherer in ihren weißen Papieranzügen unterwegs. Bei ihnen ist auch eine Fahrzeugspur im Gras zu erkennen. Sie führt über eine abfallende Wiese quer über den geteerten Wirtschaftsweg die Böschung hinunter in den See. Von Laura und Timo ist allerdings nichts zu sehen. Von Rüdiger Heuler glücklicherweise auch nichts. Wen ich nun entdecke, ist mein guter Freund Martin Schneider, der hier sicher der leitende Spurensicherer ist. Somit setze ich mich direkt zu ihm in Bewegung.
Eigentlich kenne ich ihn nicht einmal ein Jahr lang. Beim letzten Mordfall, der ja bekanntlich bisher mein einziger war, haben sich unsere Wege zum ersten Mal gekreuzt. Damals haben wir uns schnell angefreundet, was darin gipfelte, dass meine Familie nach einer Brandstiftung an unserem alten Bauernhaus eine Weile in seinem Ferienhaus gewohnt hat. Dementsprechend herzlich begrüßen wir uns. Leider bleibt uns keine Zeit für private Plaudereien, weshalb ich ihn gleich auffordere, mich auf den aktuellen Stand zu bringen.
Martin berichtet mir also Folgendes: Entdeckt wurde die ganze Sache heut Früh von Oberförster Phillip Hubertus, der uns auch aus dem letzten Fall wohlbekannt ist. Als er bei Sonnenaufgang nach der Pirsch ohne Beute mit seinem Hund den Wald verlassen hat, fiel ihm ein Ölfilm auf dem See auf. Als umweltbewusster Naturmensch hat er sofort die Feuerwehr alarmiert. Die wiederum hat gleich das Wrack des alten Fiat Pandas entdeckt und an Land geholt. Als sie den Inhalt erkannten, alarmierten sie sofort unsere Abteilung und Timo informierte mich. Der Tote war mittels handelsüblicher Kabelbinder mit den Handgelenken ans Lenkrad gefesselt, das wiederum mit Kabelbindern zum Türgriff hin fixiert war. Die Fußgelenke waren auf die gleiche Art mit dem Sitzgestell verbunden. Das Gasgestänge war im Motorraum in Vollgasstellung blockiert. Mit einem Kabelbinder, versteht sich. Beim Getriebe war der erste Gang eingelegt. Die Entfernung der Fundstelle zum Ufer deutet auf eine Geschwindigkeit von ungefähr fünfundvierzig Kilometern pro Stunde hin, was etwa der Geschwindigkeit bei Enddrehzahl im ersten Gang entspricht.
Die Rekonstruktion ergib also folgendes Szenario: Der Fahrzeuglenker wurde bei vollem Bewusstsein im Auto gefesselt, Lenkrad und Gasgestänge wurden blockiert. Anschließend wurde vermutlich das Kupplungspedal mit einer Stange oder etwas Ähnlichem fixiert, welche nach dem Starten des Motors mit einer Schnur durchs offene Fenster gezogen wurde. Und schon ging sie ab, die Post. Holla die Waldfee.
Nun gönnt sich Martin eine Atempause und mir geht das eben Gehörte noch einmal mit geschlossenen Augen bildlich durch den Kopf. Bis hierher ist die Geschichte stimmig, das bin ich aber auch von Martins Analysen gewohnt.
„Weiß man schon, wer unser Toter ist?“, versuche ich den Redeschwall des Spurensicherers wieder in Gang zu bekommen.
„Die Leiche wurde bisher nicht identifiziert. Allerdings hatte sie Papiere einstecken, die auf einen Charles van de House ausgestellt sind. Auch das Fahrzeug hat den gleichen Halter. Es ist im südfranzösischen Toulon zugelassen.“ Nun sprudeln die Informationen wieder aus ihm heraus: „Das Fahrzeug wurde inzwischen zur genaueren Untersuchung nach Neustadt gebracht. Klaus Reuter wird sich in seiner Werkstatt darum kümmern.“
Nun saugt Martin wieder Luft in seine Lungen, die er zischend entweichen lässt. Im Gegensatz zu Rüdiger Heuler mag Martin Schneider die langen Monologe nicht.
Aber das hilft alles nichts und so kann ich ihm noch entlocken, dass meine Kollegen ebenfalls nach Neustadt gefahren sind, um Heuler Bericht zu erstatten. Was ich als eine gute Nachricht empfinde, weil ich es nun nicht tun muss.
Es konnten bisher einige Fuß-, Reifen- und Textilspuren gesichert werden. Die Auswertung wird allerdings noch einige Tage in Anspruch nehmen. Auf jeden Fall wird er mich auf dem Laufenden halten.
So mache ich mich auf den Weg nach Hause. Zwischen meinen Zehen krümelt immer noch der getrocknete Schlamm von heute Morgen, da zum Duschen keine Zeit mehr gewesen war.
Als ich in Waldrohrbach die Haustür meines alten Bauernhäuschens aufschließe, rufe ich in alter Gewohnheit ein „Papa ist daheim“ die Treppe nach oben. Doch da die Antwort ausbleibt, wird mir klar, dass meine Familie noch in Köln auf dem Campingplatz verweilt. Meiner Klamotten entledige ich mich im Keller vor der Waschmaschine, stapfe nach oben und lasse mir ein Bad ein. Während das Wasser plätschert, rasiere ich mich noch geschwind.
Heute Morgen war es früh und der Tag war anstrengend. So kommt es, dass ich in meinem herrlich warmen Badewasser einschlafe. Ach, wie ist das schön, wenn man in der Wanne so vor sich hin schlummert. Traumhaft!
Mitten in meinem Traum klingelt es an der Haustür! Es klingelt sogar Sturm. So laut, dass ich davon wach werde. Und was soll ich sagen? Es klingelt tatsächlich Sturm an meiner Haustür. Also das Handtuch um die Hüften und kleine Schaumhäufchen zum Fenster hin verteilen, um dann „Hallo, wer da?“ nach unten zu rufen.
„Pizzaservice“, schallt es zurück. Die Stimme kenn ich. Die habe ich doch erst vor Kurzem gehört. Obwohl ich noch reichlich verschlafen bin, erkenne ich dann doch, dass es Martin Schneider ist.
Nur Minuten später sitze ich im Bademantel mit meinem Freund am Küchentisch.
„Na, wenn ich schon einmal hier in der Nähe bin, kann ich doch auf eine Pizza von Mario nicht verzichten“, sagt Martin und packt zwei Kartons und eine Salatschüssel auf den Tisch, der damit sofort reichlich überladen wirkt. Wer schon einmal im La Rusticana gegessen hat, weiß, was ich meine.
Martin verputzt seine große Pizza restlos und tränkt zum Abschluss sogar noch ein paar Pizzabrötchen im Salatdressing. Ich habe derweil meine kleine Pizza zu einem Drittel gegessen und packe den Rest als Wochenvorrat in den Kühlschrank.
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