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Während ihr Mörder noch zu ihr unterwegs war, genoss Roserl das erste und letzte ausgiebige Whirlpool-Bad ihres Lebens. Dem gekühlten Schampus konnte sie nicht widerstehen. Zu verlockend kondensierte die Kälte auf der grünen Flasche, als sie den Champagner aus dem Kühlfach nahm. Sie ließ Wasser in die Whirlpool-Wanne, ließ es ordentlich sprudeln und schaltete die wechselnden Lichteffekte ein. Nachdem sie die Champagner-Flasche mit einem tiefen Plopp geöffnet, einen ordentlichen Zug aus der Pulle genommen und dann laut gerülpst hatte, stieg sie in das sprudelnde Wasser. Die Flasche mit dem edlen Getränk stellte sie griffbereit auf dem Fliesenfußboden vor der Wanne ab. Sie dachte über ihr bisheriges Leben nach. Prahlen konnte sie damit nicht: Eine äußerst dürftige und mäßige Abiturnote und ein völlig verkorkstes Italoromanistik-Soziologie-Studium war das einzig Wesentliche, was sie vorzeigen konnte. Vor Antritt des fünften Semesters meinte sie ein Jahr in Rom verbringen zu müssen. Eindrücke von Land und Leuten gewinnen, Sprache verbessern, so waren seinerzeit ihre Gedanken. Heute gestand sie sich ein, dass sie damals von der Uni einfach nur die Schnauze voll hatte. Sie musste einfach mal raus aus diesem Lehrsaalmief. Nicht sie gewann Eindrücke von Land und Leuten, sondern die jungen römischen Männer gewannen Eindrücke von ihr. Sie landete quasi mit jedem im Bett, den sie kennenlernte. Bis Luigi kam. Luigi Antonelli aus dem süditalienischen Dorf Platì, in der Stiefelspitze Italiens gelegen. Luigi schmiss mit Geld nur so um sich. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Dafür schenkte sie ihm ihren jungen, aufregenden Körper. Vergessen waren Uni und Studium. Drei Wochen nach dem Kennenlernen zog sie in seine exklusive Junggesellenwohnung nahe der Spanischen Treppe ein. Fortan führte Roserl ein wildes Leben voller Partys, Sex und Drogen. Bald stand sie auf Koks und zog sich regelmäßig eine Linie in die Nase. Luigi schien direkt an der Quelle des Kokains zu sitzen. Woher das viele Geld kam, konnte sie sich nicht erklären, denn ihr Lover ging keiner geregelten Arbeit nach. Aber das interessierte sie auch nicht wirklich. Die Kohle war einfach da. Ihr Lebensgefährte bekam viel Besuch. Männlichen Besuch. Meist zwielichtige Gestalten. So sahen sie jedenfalls aus. Manchmal sah sie auch eine Schusswaffe in einer Art Körpergürtel unter einem Jackett stecken. Luigi beruhigte sie. »Alles Privatdetektive meiner Kanzlei«, erklärte er ihr, »kein Grund zur Sorge.« Sie lebte weiter sorglos in den Tag hinein, bis zu dem Tag, an dem sie Anna traf. Eine von Luigis Ex-Freundinnen.
»Hör zu, was ich dir sage, denn ich sage es nur ein einziges Mal«, warnte Anna sie. »Du lebst gefährlich. Luigi ist ein hohes Tier in der Mafia-Organisation der Ndrangheta. Er geht über Leichen. Wenn du ihm überdrüssig wirst, lässt er dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hätte mein Verhältnis zu ihm fast mit dem Leben bezahlt. Hier, sieh her«, forderte sie Roserl auf, schob ihr T-Shirt über dem Hosengürtel hoch und ließ die Deutsche ihre grausam verstümmelte und vernarbte Bauchdecke sehen.
»Was ist das?«, zuckte Rosi angeekelt zurück.
»Ein Säureanschlag«, erhielt sie zur Antwort, »nur so zur Warnung. Ich kann froh sein, dass er mich nicht umgebracht hat.«
»Was hast du ihm angetan?«
»Ich? Nichts. Ich stand ihm lediglich im Wege. Für eine neue Beziehung. Eine Asiatin aus Hongkong hatte es ihm angetan. Nach sechs Monaten mit ihm zusammen sprach sie von Hochzeit. Zwei Monate später wurde sie von einem Lkw überfahren. Natürlich tot. Der Unfallfahrer wurde bis heute nicht gefunden. Ich kann dir nur raten, hau ab, solange noch Zeit dazu ist.«
Roserl glaubte ihr kein Wort. Aus Anna sprach der blanke Neid. Verletzte Gefühle. Dennoch, ein kleines Gefühl von Misstrauen war in ihrem Innersten gesät. Fortan betrachtete sie das Verhalten ihres Freundes mit einer gewissen Skepsis, ohne sich etwas anmerken zu lassen – wie sie glaubte. Als sich der Arm des Gesetzes nach Luigi ausstreckte, wäre es fast zu spät gewesen. Sie schaffte gerade noch rechtzeitig den Absprung. Dass sie sich bereit erklärte, mit der römischen Justiz zusammenzuarbeiten, rechnete sie ihrem Eigeninteresse zu, mit einem blauen Auge aus der ganzen Scheiße herauszukommen. Was Luigi alles auf dem Kerbholz hatte, nun darüber wusste sie nichts Genaues, aber einige von Luigis Besuchern erkannte sie wieder, als man ihr die Fahndungsfotos und Verbrecherkarteien vorlegte. Und dass Luigi über unerschöpfliche Kokainvorräte verfügte, wusste sie auch. Sie sang wie eine Amsel in der Abendsonne. Erst danach ließen die italienischen Behörden sie ziehen. Nach Bad Tölz wollte sie nicht zurück. So entschied sie sich für das nahe gelegene Wolfratshausen. Das kannte sie, lag ja nicht weit von ihrer Heimatstadt entfernt. Damals überlegte sie, wie es mit ihr weitergehen sollte. »Was beherrschst du am besten?«, fragte sie sich selbst. Sie überlegte intensiv und lauschte ihrer inneren Stimme. »Bumsen«, sagte ihr die Stimme. »Womit kannst du am schnellsten und leichtesten Geld verdienen?« Egal, welche Fragen sie sich stellte, die Antworten waren immer die gleichen: Bumsen. »Außerdem brauchst du genug Kohle, um dir Stoff zu besorgen«, verriet ihr ihre innere Logik.
So stieg sie in das horizontale Gewerbe ein. Von irgendetwas musste der Mensch ja schließlich leben. Auch wenn sie niemandem verriet, dass sie sich in die Stoiber-Stadt flüchtete und später in die Oberpfalz umzog, hatte sie der lange Arm der Behörden doch gleich wiedergefunden. Vor Tagen, als sie Rolfs Nachricht vorfand, lag eine weitere Nachricht in ihrem Briefkasten. Von der Staatsanwaltschaft in Rom. Darin wurde sie informiert, dass das aufwendige Ermittlungsverfahren gegen Luigi Antonelli nunmehr endgültig abgeschlossen sei und ihm ein langwieriger Gerichtsprozess bevorstünde. Sie, Roserl Hinterwimmer, habe damals eine mehrmonatige intime Beziehung zu dem Angeklagten unterhalten, habe Kokain von ihm bezogen und verkonsumiert und werde hiermit als eine wichtige Zeugin der Staatsanwaltschaft berufen. In dem Schreiben wurde sie aufgefordert, sich am 13. August dieses Jahres bei Oberstaatsanwalt Dr. Fernando Vincelli, Via de Campone 3, zu melden. Dieser Vorladung sei unbedingt Folge zu leisten, hieß es. Ansonsten … Es folgten Hinweise auf ein Sammelsurium von Paragrafen, welche Roserl nichts sagten. »So ein Scheiß«, entfuhr es ihr in dem blubbernden Schaumbad, als ihr der Brief der römischen Staatsanwaltschaft wieder durch den Kopf ging, »wie haben die mich bloß gefunden?«
Dass es neben Dr. Fernando Vincelli auch andere Leute gab, welche ebenfalls ein gewisses Interesse an ihrer Person haben könnten, nun auf diese Idee kam Roserl nicht, als der Champagner tief in ihrem Hals prickelte. Il Tedesco, der Deutsche, hatte schon vor Monaten den Auftrag erhalten Roserl ausfindig zu machen. Seitdem klebte er auf ihrer Spur und war ihr näher und näher gekommen. Aber wie gesagt, davon hatte Roserl keine Ahnung. Für sie war die Episode Rom gedanklich längst ad acta gelegt. Bis vor wenigen Tagen eben, als sie den Brief der römischen Justiz in ihrem Briefkasten vorfand. Auch Il Tedesco – alias Rolf – hatte sie gefunden und war auf dem Weg zu ihr. Die Ndrangheta hatte mit ihr noch eine offene Rechnung zu begleichen. Dass die Roserl bald gegen ihren früheren Liebhaber aussagen sollte, gefiel den Clans der Ehrenwerten Gesellschaft überhaupt nicht. Der Auftragskiller war bereits in der Stadt, das Leben von Rosi Hinterwimmer keinen Pfifferling mehr wert. Noch plantschte sie im sprudelnden Whirlpool, dachte an eintausend Euro und an eine Anaconda. Ihre Lebensuhr tickte nur noch eine halbe Stunde.
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Mit großen Schritten brach die Nacht endgültig über Amberg herein und schlich sich in die historische Altstadt. Die Seminargasse war menschenleer. Die Hitze staute sich noch immer in der schmalen Straße. An Abkühlung war nicht zu denken. Der Mörder legte seinen mit einem Tempotaschentuch umwickelten Daumen auf den Klingelknopf des Eh’häusls. Drinnen ertönte ein helles Ding-Dong. Dann rührte sich etwas im Haus. »Ich komme«, hörte er eine weibliche Stimme rufen. Sekunden später öffnete sich die Tür.
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