Fast dreihundert Jahre lang wurde im Eh’häusl nie jemand ermordet, bis zum 3. Juli 2015. Der Täter, ein gebürtiger Franke, auf dem besten Wege ein wichtiges Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft, der Ndrangheta, zu werden, das Opfer eine Edel-Nutte, geboren in Bad Tölz, derzeit wohnhaft in Amberg. Bevor es nun gleich los geht, ist nur noch eine Frage zu klären: Wer oder was ist die Ndrangheta? Ndrangheta! Ein Wort aus dem Altgriechischen, jener Sprache des Dichters Homer, die in einem Dialekt Kalabriens auch heute noch weiterlebt. Andragathia, das heißt Mannhaftigkeit. Dem Ursprungsmythos nach sind in fernen Zeiten drei Ritter aus Katalonien gekommen, Osso, Mastrosso und Carcagnosso. Die drei Spanier kamen ins Land, um die Ehre ihrer Schwester zu retten und einen Mann zu töten. Für ihre Tat wurden sie auf die sizilianische Insel Favignana verbannt. Am Ende ihrer Haft verfassten sie den ersten Verhaltenskodex und das Gesetz der Omertà. Sie gründeten drei Geheimgesellschaften – Osso die Cosa Nostra auf Sizilien, Mastrosso die Ndrangheta in Kalabrien, Carcagnosso die Camorra in Neapel.
Heute ist die Ndrangheta die modernste und mächtigste Organisation im Kokaingeschäft, ein molekulares Netz, zusammengehalten durch strengste Regeln, überlieferte Traditionen und Blutsbeziehungen. Eine Struktur wie Granit, das Opus Dei der organisierten Kriminalität. Aus den Bergdörfern der ausgedörrten, felsigen Südspitze Italiens demonstriert sie ihre Macht bis nach Adelaide in Australien und nach Caracas, Venezuela. Mit ihren privilegierten Beziehungen zu den Drogenbaronen in Kolumbien hat sie die Kontrolle über den Kokainmarkt Europas übernommen. Doch ihre tentakelartige Struktur reicht auch bis in die letzten Winkel deutscher Provinz. Die Stadt Erfurt zum Beispiel, nicht zu groß, nicht zu klein, ist eine ihrer deutschen Hochburgen. Von hier aus unterhält die Ndrangheta Beziehungen nach Fulda, Weimar, Dresden und Leipzig, selbst bis ins Ruhrgebiet, verwaltet ihre Finanzen und investiert in Portugal, Spanien und Frankreich. Sie kooperiert mit gewaltbereiten Armeniern, die ihre Getränkeläden, Shisha-Bars und ein Netz von Autohäusern in ganz Thüringen aufgebaut haben. In der Nacht zum 15. August 2007 starben in der Mühlheimer Straße in Duisburg sechs Männer im Kugelhagel und Deutschland musste ein neues Wort lernen. Und es gibt eine Chance, dass sich dieses Wort genauso in unsere Alltagssprache einbürgern wird wie Caffè Latte, Gnocchi und Spaghetti vongole: Ndrangheta.
Der 3. Juli 2015 begann genauso heiß und drückend, wie es die Tage zuvor schon waren. Wieder kletterte die Quecksilbersäule im Lauf des Tages auf sechsunddreißig Grad im Schatten. Ganz Süddeutschland stöhnte unter der bleiernen Hitze. Auch die oberpfälzische Metropole Amberg blieb nicht davon verschont. Die Rasenflächen der öffentlichen Parkanlagen zeigten ein durchgängig vertrocknetes Hellbraun. Nur hie und da widerstand ein hartnäckiger Löwenzahn und schob seine gezackten grünen Blätter durch die verbrannte Erde. Träge schlichen die Menschen über die Kopfsteinpflaster in der Altstadt. Das Café Zentral, gleich neben dem historischen, gotischen Rathaus, hatte seine breite, schattenspendende Markise bis zum Anschlag ausgefahren. Darunter versteckten sich die Gäste vor den sengenden Strahlen der glühenden Sonne. Ein freies Plätzchen war nicht mehr zu finden. Die Besucher schlapperten ihre Eisbecher und Eiskaffees in einer affenartigen Geschwindigkeit in sich hinein, bevor sich die Vanille-, Schoko-, Erdbeer- und Mangoeiskugeln von selbst in eine breiige Flüssigkeit auflösen konnten. Nicht der kleinste Windhauch strich über den altehrwürdigen Platz. Die ganze Stadt litt unter der nachmittäglichen Hitze. Im Kurfürstenbad an der Vils plärrten und lärmten Schüler und Jugendliche und füllten die Badebecken. Selbst die Stockenten auf dem nahen Fluss hatten sich in den schattigen Uferbereich verzogen und warteten geduldig auf den Sonnenuntergang. Noch war es nicht so weit. Wer in der Stadt nichts zu besorgen hatte, und nicht im klimatisierten Büro seiner Arbeit nachging, hatte zu Hause Tür, Tor und Fenster verrammelt, um die kriechende Hitze auszusperren. Doch auf Dauer halfen auch diese Maßnahmen nichts. Das anhaltende Wüstenklima drang auch durch die dicksten Mauern und bestens isolierten Glasflächen.
Auch die Rosi, genauer gesagt die Roserl Hinterwimmer, gebürtige Bad Tölzerin, litt unter der Hitzewelle. In ihrem Arbeitszimmer unter dem Altbaudach in der Seminargasse schwitzte sie einsam vor sich hin. Das Geschäft ging äußerst schlecht in diesen Tagen. Es war quasi zum Erliegen gekommen. Kein Wunder, bei diesen Tagestemperaturen. Welcher Freier wollte bei dieser Affenhitze tagsüber schon bumsen? Selbst die taffen und immer geilen US-Boys vom nahe gelegenen Truppenübungsplatz Grafenwöhr blieben aus. Sie bevorzugten ihre Baracken und Zeltlager, und wer nicht gerade Dienst schob, döste träge vor sich hin. Das Roserl wusste nicht so recht, ob sie darüber froh sein oder sich ärgern sollte. Einerseits trauerte sie den entgangenen Einnahmen nach, andererseits, wenn sie sich vorstellte, wie bei dieser Hitze ein schwitzender, stinkender Freier sich unter oder über ihr abrackerte, nur um zu seinem Höhepunkt zu kommen … Ekelig. Na ja, das Leben hat immer zwei Seiten. Es sah nicht gut aus derzeit. Viel zu heiß. Lediglich einen einzigen Stammkunden konnte das Roserl in dieser Woche beglücken. Das war gestern Abend. Moritz mit dem kleinen Schniedel hatte sie mal wieder besucht. Moritz, mit dem leichten fränkischen Dialekt. »Ich täts gern ohne Gummi machen«, bildete er sich auch gestern wieder ein. Und das ohne Aufpreis. Na, den Zahn hatte sie ihm, wie immer, schnell gezogen. Fünfzig Euro zusätzlich hatte sie ihm für seine unrühmliche Vier-Minuten-Nummer abgenommen.
Vor einem Jahr war die Roserl von Wolfratshausen nach Amberg umgezogen. Seinerzeit hatte sie in der oberbayerischen Gemeinde ihr Gewerbe in der Berggasse betrieben.
Das Geschäft lief damals schon mau. Die erzkonservativen, tiefkatholischen Einheimischen rundherum gehörten nicht gerade zu ihren Kunden. Im Gegenteil, da gab es so einen schiachen Hirnbeißer in der Nachbarschaft, der aber auch alles, was in der Berggasse geschah, gleich ins Netz stellte. Er fotografierte heimlich die Freier, die zu ihr kamen, kommentierte die Dauer ihrer Aufenthalte bei ihr und erboste sich generell über das horizontale Gewerbe. Mobbing nennt man so etwas. Einem Ehepaar, sie Französin, er Deutsch-Spanier, erging es ähnlich. Nach langem Hin und Her mit den örtlichen Behörden und nach Befolgung vieler Auflagen, hatten sie endlich die Genehmigung erhalten, oben am Hang ein modernes Wohngebäude zu errichten. Ein wunderschönes, architektonisch gelungenes Haus, ein rechteckiger Glaskasten – mit Flachdach –, welches vom Baustil ebenso gut in die Gegend passte wie ein Vollrausch zu Papst Franziskus. Der schiache Hirnbeißer wusste auch darüber zu berichten und seinen Unmut kundzutun. Auch dass die Hannerl, die Lieblingskatze von dem Hirnthalers Loisl, schon wieder trächtig war, konnte der interessierte Besucher der Bergassen-Website nachlesen.
Als sich die Roserl einmal im Internet verirrte und las, dass Amberg als der Puffstandort Nummer eins in der ganzen Oberpfalz gilt, beschloss sie, sich räumlich zu verändern. So kam sie hierher und lebt seitdem in der Seminargasse zur Miete. Ihr geräumiges Arbeitszimmer mit den roten, schweren Vorhängen dient ihr als Arbeitsplatz, zum Wohnen, Schlafen und als Büro. Eine kleine Küche mit einem großen Kühlschrank, in dem exquisite Getränke gut gekühlt dahinschlummern, sowie ein geräumiges Bad mit Badewanne ergänzen ihr Etablissement.
Roserl Hinterwimmerl war bei dieser Hitze nur leicht bekleidet. Sie trug lediglich einen roten String-Tanga, der mit ihrer kaminroten Wuschelmähne gut harmonierte. Irgendwie sah sie aus wie der weibliche Pumuckl, mit schlanken, fast endlos langen Beinen, welche hinten in einen strammen Arsch übergingen. Das Holz vor der Hütte war auch nicht zu verachten (mindestens ein Ster auf jeder Seite), und dann waren da noch die frechen Sommersprossen rund um ihre Nase. Sie saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Lotterbett, den Rücken an die Wand gelehnt. Ihre blasse Haut glänzte. Kleine Schweißbäche rannen ihr vom Halsansatz zwischen ihren schweren Brüsten hindurch und sammelten sich in ihrem Nabel, bevor sie sich von dort in die Winzigkeit ihres einzigen Kleidungsstückes verflüchtigten. Die Meisterin des horizontalen Gewerbes hielt ein beschriebenes Blatt Papier in der Hand, welches sie schon zum wiederholten Male las, aber daraus immer noch nicht ganz schlau wurde. Rolf? Wer verdammt ist oder war Rolf? Sie grübelte und durchwühlte in ihrem Langzeitgedächtnis eine Schublade nach der anderen. Zu Rolf fiel ihr dennoch nichts ein. Hätte der Depp ihr nicht ein paar zusätzliche Angaben machen können? Wieder nahm sie das Schreiben, das sie vor zwei Tagen lose in ihrem Briefkasten vorfand, zur Hand und begann zu lesen:
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