Johannes Wally
Absprunghöhen
Erzählungen
Leykam
Für Sandra
Have you ever felt that you had a vocation?
(James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man)
Kirsti brauchte eine Wohnung, und so gab ich eine Annonce in der Kronenzeitung auf: „Junge Unternehmensberaterin sucht Wohnung, 50-70 m2, gute Verkehrsanbindung, gerne auch Balkon.“ Eigentlich war Kirsti keine Unternehmensberaterin. Sie arbeitete beim Bundesamt für Statistik in Wiesbaden und erstellte dort die Todesursachenstatistik. Aber das konnte man nicht in eine Annonce schreiben. Wer vermietete schon gerne eine Wohnung an jemanden, der über Todesursachen Buch führt? So fragte zumindest Kirsti, und mein Argument, sie müsse ja nicht sagen, wo oder worüber sie Statistiken führe, wischte sie mit einer Handbewegung weg. Entweder eine ganze Lüge oder keine. Also machten wir aus ihr eine Unternehmensberaterin. Der Rest stimmte allerdings. Besonders der Teil mit dem Balkon.
Die Annonce erschien an einem klirrend kalten Samstag im Jänner, an dem wir bereits um sieben Uhr früh auf den Beinen waren, denn wir hatten ein dichtes Programm vor uns: Termine für fünf Wohnungsbesichtigungen waren vereinbart und vielleicht meldete sich noch jemand auf die Annonce hin. Und tatsächlich, als wir unseren zweiten Besichtigungstermin absolviert hatten, läutete mein Handy. Eine Frauenstimme fragte: „Sie suchen eine Wohnung?“
„Ja. Also, eigentlich meine Freundin.“
„Das trifft sich gut!“ Die Frau am anderen Ende der Leitung schien sich zu freuen. „Ich suche nämlich einen Nachmieter oder eine Nachmieterin!“
„Sie haben die Annonce gelesen?“
„Ja. Es wird Ihnen gefallen. Die Wohnung ist 70 m2 groß, es gibt einen Balkon, und die U2 ist auch gleich in der Nähe.“
„Wie hoch ist die Monatsmiete?“
„600 €.“
„Wirklich!“ Ich zwinkerte Kirsti, die mich fragend ansah, zu. Ich hatte so meine Zweifel gehabt, ob die Annonce mehr als nur hinausgeworfenes Geld war, aber offensichtlich hatte ich mich getäuscht. „Wann können wir die Wohnung ansehen?“
„Ich habe den ganzen Tag Zeit. Wenn Sie wollen, gleich.“
Es war zehn Uhr Vormittag und der nächste Besichtigungstermin war erst für zwei Uhr nachmittags angesetzt. Wir hatten also Zeit. Die Frau gab mir die Adresse, und wir fuhren los.
Wir waren uns vor einem halben Jahr im Hotel Braunsbergerhof begegnet. Unser gemeinsames Hobby, das Aquarell-Malen, brachte uns zusammen. Der ehemalige Architekt und nun freischaffende Maler Ulli Breitenfurter hielt einen Workshop mit dem Titel „Malen und Wandern in Südtirol“. Ich war alleine, schon seit zwei Jahren, und ein Seminar schien mir eine gute Gelegenheit, jemanden kennenzulernen oder zumindest einen schönen Urlaub zu verbringen. Am ersten Abend fand auf der Hotelterrasse ein Sektempfang für die Seminarteilnehmer statt, und Kirsti fragte mich, wie spät es sei. Als ich nicht sofort antwortete, ergriff sie mein linkes Handgelenk, hob und drehte es gleichzeitig, sodass sie das Ziffernblatt meiner Uhr sehen konnte. Ihr Vater sei Finne, ihre Mutter Berlinerin. Deswegen ihre direkte Art, erklärte Kirsti, als sie meinen überraschten Blick bemerkte. Außerdem sei sie eine starke Frau, die gerne Grenzen überschreite. Deswegen brauche sie auch einen starken Mann, der ihr gelegentlich Grenzen ziehe. Sie sah mich herausfordernd an, lächelte dann bezaubernd und ließ mein Handgelenk wieder los. Sie liebte das Malen, weil es die dritte ihrer vier Sprachen war: Da gab es die Sprachen-Sprache wie Finnisch oder Deutsch. Es gab die Statistik-Sprache mit all den Formeln und Vorzeichen. Es gab die Farb-und-Pinsel-Sprache. Die Sprache der Freude, der Welterkundung. Und es gab die Numerologie. Die Sprache der Wahrheit. Kundig, wie Kirsti darin war, errechnete sie, kaum dass sie mein Geburtsdatum kannte, meine Persönlichkeit. Ich sei eine Ziffer sieben. Der klassische Beobachter und Analytiker, ein Einzelgänger. Aber trifft so jemand seinen wahren Widerpart, ist es für immer. Dabei zog sie die Augenbrauen hoch. Später, als sie mir von ihrem Beruf erzählte, fragte ich sie, ob sich aus den Statistiken, die sie erstellte, auch Botschaften abseits gesundheitspolitischer Aussagen herauslesen ließen. Ob sich aus dem Todesdatum ein Weg in ein Leben danach errechnen ließe, in einen Himmel oder in einen neuen Körper; oder ob generell Koeffizienten und Regressionsanalysen mehr als nur eine statistische Annäherung an eine materielle Wirklichkeit seien. „Sei nicht dumm“, erwiderte Kirsti, „das sind zwei Paar Schuhe.“ Dabei tippte sie mir scherzend auf die Nase.
Für ein halbes Jahr besuchten wir uns im wöchentlichen Abstand. Einmal fuhr ich nach Wiesbaden, einmal kam Kirsti nach Wien. Mir machten die Zugfahrten nichts aus. Am Freitag-, oder manchmal, wenn es sich einrichten ließ, schon am Donnerstagabend, stieg ich in den Zug und kam frühmorgens in Frankfurt an. Dann nahm ich die Schnellbahn und stieg 40 Minuten später in Wiesbaden aus. Dort erwartete mich Kirsti und richtete mir jedes Mal den Kragen meiner Jacke, denn dieser war vom Schlafen im Zug verdreht. Ich hätte auch nach Frankfurt fliegen können, manchmal wäre das sogar billiger gewesen, aber ich fuhr immer mit der Bahn. Im Liegewagen durch die Nacht zu fahren: unerkannt vorbei an Häusern, Bäumen und Menschen, die nicht wissen, dass du an ihnen vorbeigefahren bist, und die morgen noch immer in ihrem Leben, in ihren Häusern, neben ihren Bäumen und Menschen sein werden, während du bereits ganz woanders bist. Das war für mich Abenteuer. Das war für mich Freiheit. Als ich das Kirsti erzählte, malte sie mir ein Aquarell mit einem ungewöhnlichen Motiv: eine Detailansicht des Triebwerks einer Dampflokomotive. Hebel, Kurbeln, Exzenter. Messingfarbene Gelenke vor roten Rädern. Dampf steigt auf, die Räder sind im Begriff sich in Bewegung zu setzen. Das Bild ist gegensätzlich. Das Motiv wird durch die Maltechnik kontrastiert. Aber das passte zu Kirsti, und ich war sehr verliebt.
Und nun wollte Kirsti nach Wien ziehen. Ihr Job, so sicher er auch war, gefiel ihr nicht, und Wiesbaden war nicht die Stadt, in der sie alt werden wollte. Außerdem war eine Fernbeziehung auf Dauer nur schwer zu machen. Wir wollten beisammen sein, und Kirsti hatte mehr Gründe ihren Wohnort zu verlassen als zu bleiben. Zusammenziehen wollten wir aber doch nicht gleich. Schritt für Schritt. Das war ihre Devise, immerhin war sie ihres Vaters Tochter und der war ein strenggläubiger Lutheraner.
Die Wohnung lag in einem Jugendstilhaus, das trotz bzw. gerade wegen des vernachlässigten Stiegenhauses einen gewissen Charme hatte. Bei der Türnummer 11 klingelten wir. Eine attraktive, etwas überschminkte Frau in einem seidenen Morgenmantel öffnete uns die Tür. „Elisabeth Kainz“, stellte sie sich vor und streckte erst Kirsti, dann mir die Hand hin: „Kommen Sie weiter!“
Die Wohnung bestand aus Küche, Toilette und Badezimmer, zwei großen Wohnräumen und einem kleinen Schlafzimmer. Für einen Altbau im 2. Bezirk war die Wohnung überaus platzsparend konzipiert. Es gab keine großen Vorzimmer und keine Dienstbotengänge; auch waren die Zimmer nicht allesamt durch Türen verbunden. Frau Kainz führte uns in das Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Dort lag eine zusammengeknüllte Decke, und auf dem Tisch stand ein eben geleerter Aschenbecher so, dass er bequem von der Couch aus erreicht werden konnte. „Sie müssen entschuldigen“, sagte Frau Kainz, „aber ich schlafe seit einigen Wochen im Wohnzimmer. In das Schlafzimmer gehe ich nicht mehr. Wegen meines Freundes, wissen Sie. Aber sehen Sie sich ruhig um!“
Kirsti hatte auf ihre Einladung gar nicht erst gewartet und inspizierte bereits die Räume. Die Wohnung war geschmackvoll eingerichtet, modern, wobei alle Möbel demselben Design folgten und ausschließlich gerade Linien und harte Winkel aufwiesen. Die Kücheneinrichtung war ebenfalls neu, neben dem Kühlschrank standen zwei leere Weinflaschen, in der Spüle lagen zwei Weingläser, eines davon zerbrochen. Im Schlafzimmer hing ein kubistisches Bild einer Städtelandschaft und im Arbeitszimmer die gut einen Quadratmeter messende Frontalansicht einer mit Ölfarben gemalten Wespe. Es war ein eindrucksvolles Bild, mir machte es Angst, aber Kirsti war begeistert. Als wir schließlich am Balkon standen und in den Augarten sahen, stand ihre Entscheidung fest: Diese Wohnung musste es sein.
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