„In den Mantel helfen dürft ihr mir erst nach dem ersten Schlaganfall“, hatte der Vater nach jeder Familienfeier gescherzt, und selbst wenn die vielen Krügerln und Vierteln aus dem Anlegen des Mantels ein schier unausführbares Kunststück gemacht hatten und der Vater mit seinen nach hinten gestreckten und in den Einschlupflöchern der Ärmel verfangenen Hände wie ein riesiger Schmetterling um den Mittelpunkt eines konzentrisch anwachsenden Kreises tanzte, duldete er nicht die geringste Hilfestellung. „Schleich dich“, fauchte er dann jeden an, und einmal ließ er mit einem Fluch den Mantel einfach auf den Boden fallen und ging im Sakko nach Hause. Drei Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstags starb er. Eines Morgens lag er im Bett und stand einfach nicht mehr auf, und wie Leitner später Jochen erzählte, sei er einfach dagelegen, als wäre das Sterben das Natürlichste im Leben.
„Meine Mama sagt, wenn man stirbt und im Leben auf den lieben Gott gehört hat, dann kommt man in den Himmel“, hatte Jochen geantwortet. Und dann hatte er zu Leitner gesagt: „Darf ich zu dir Opa sagen?“ Und als Leitner erstaunt fragte, was denn Jochens Opa dazu sagen würde, hatte Jochen geantwortet: „Den stört das nicht, der ist schon im Himmel.“ Da hatte Leitner gelächelt und eingewilligt.
Leitner zog die Handschuhe aus, bückte sich und holte aus einer Einkaufstasche das Säckchen mit den Erdnüssen heraus. Er öffnete es, nahm eine Handvoll und steckte sie in seine Manteltasche, die übrigen Nüsse verstaute er wieder in der Einkaufstasche. Er nahm eine Erdnuss und brach die Schale auf. Feiner Staub tanzte zu Boden. Er schob die Erdnuß in den Mund. Die Braunau würde nun bald ganz mit Eis überwachsen sein. Als sie Jochen aus dem Fluss zogen, war er so steif gefroren gewesen, dass sie ihm beim Versuch das Stück Holz herauszulösen, das er in den Händen hielt, die Finger brachen. Leitner fixierte die mater dolorosa. Die Witterung hatte ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit erodiert. An einem Donnerstagabend im Oktober war Jochen in die Bücherei gekommen – klein, feingliedrig, mit porzellanblauen Kinderaugen – und fragte, ob er sich etwas zum Lesen ausborgen könne. Zufällig war Leitner alleine in der Bücherei, und neugierig musterte er den Buben. „Grüß dich. Wer bist denn du?“, fragte er Jochen, und Jochen nannte seinen Namen im reinsten Hochdeutsch. Mit unverhohlener Neugierde stand er eineinhalb Meter von Leitners Schreibtisch entfernt und betrachtete die vielen nach Themenbereichen geordneten Bücher.
„Was interessiert dich denn?“, fragte Leitner.
„Naja ... ich muss jetzt gehen“, erwiderte Jochen mit einiger Verzögerung, dafür umso hastiger, „kann ich morgen wiederkommen?“
„Morgen bin ich nicht da, aber wenn du am Sonntag kommst, bin ich wieder hier. Wenn du dann ein Buch findest, dann schreibe ich dir einfach eine Karteikarte mit einer Karteinummer, und dann kannst du dir das Buch mitnehmen, und pro Woche, die du es ausgeborgt hast, zahlst du zwei Schilling.“ Jochen nickte eifrig, dann war er verschwunden gewesen.
Leitner nahm noch eine Erdnuss. Eine kurznackige Frau kam mit einem zusammengefalteten Tischtuch aus dem Haus. Sie blickte misstrauisch zu Leitner hinüber, beutelte das Tischtuch aus und ging wieder ins Haus. Am Rand der Siedlung ließ jemand einen Dieselmotor an, und das plötzliche Geräusch überlagerte das Klingen in Leitners Ohren. Dann war es wieder so ruhig, als gäbe es in einer gläsernen Welt kein Geräusch.
Brünhild, hatte Leitner erzählt, lebe im ewigen Eis, doch ihre Burg war von einem Ring aus Feuerzungen umgeben, den nur ein wahrer Held durchdringen konnte. Sie war so schön, wie sie dunkel war, eine große Dunkelheit mit den kühlen Augen einer Herrenfrau. Jochen unterbrach Leitner mit der Frage, ob Brünhild größer als ein Meter achtzig gewesen sei, und irritiert erwiderte Leitner, dass er das nicht wisse, als er aber Jochens Enttäuschung sah, beeilte er sich, die Walküre noch einmal um fünf Zentimeter wachsen zu lassen. Jochen wollte alles genau wissen, wahrscheinlich war er der aufmerksamste Zuhörer, den Leitner jemals gehabt hatte.
Er zog seine Handschuhe wieder an, hob die Taschen vom Boden auf und machte sich weiter auf den Weg. Seine rechte Schulter schmerzte, es waren die Gelenksschmerzen; auch die kamen jedes Jahr um diese Zeit wieder. Als Jochen am Sonntag nach jenem Donnerstag die Bibliothek betrat, hatte Leitner ein Buch bereitgelegt. Eine illustrierte Nacherzählung des Nibelungenlieds, deren Einband Siegfrieds Kampf mit dem Drachen zeigte. Jochen trat zielstrebig ein, blieb aber abwartend in einiger Entfernung stehen. Leitner winkte ihn zu sich und hielt dem Buben das Buch hin. Ob er das schon kenne. Jochen schüttelte den Kopf. Das müsse er unbedingt lesen. Es werde ihm gut gefallen. Jochen erwiderte, dass er aber erst in zwei Wochen wiederkommen könne, da er nach Wien fahre. „Nimm das Buch mit, aber bring es mir wieder. Ich habe es extra für dich vorbereitet.“
Die Straße war alt und der Asphalt stellenweise von knapp unter der Erdoberfläche liegenden Baumwurzeln gesprengt. In Gedanken verloren stolperte Leitner über eine Unebenheit und konnte sich nur mühsam auffangen. Vom Schreck pochte sein Herz so stark, dass sein Brustkorb schmerzte. Vor seinen Augen tanzten schwarze Flecken. Als sich sein Blick wieder scharfgestellt hatte, bemerkte er, dass er nur wenige Meter von der Stelle entfernt stand, an der sie Jochen aus der Braunau gezogen hatten. Jochen musste an einer nur von dünnem Eis überwachsenen Stelle weiter flussaufwärts eingebrochen und dann starr von Schreck und Kälte ins Wasser gerutscht sein. Dann hatte ihn wohl die Strömung erfasst und hierher gespült. Auf den farbigen Fleck unter der dünnen Eisschicht unweit von der Brücke aufmerksam geworden, verständigte ein Spaziergänger die Polizei. Diese hatte bereits vor einigen Stunden eine Verlustnachricht der Eltern erhalten und als großstädtische Nervosität abgetan. Nun aber befürchtete man das Schlimmste und rückte gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr aus. Zur Seelenmesse hatte sich Leitner unter die zehnte Kreuzwegstation gesetzt. „Ich bin immer gottgläubig gewesen“, begann er zu beten. Über diesen Anfang war er nicht hinausgekommen.
Das Stechen in der Brust ließ nach, ohne ganz zu verschwinden. Leitner war alt geworden und würde an seinem Alter sterben, dabei hatte er viel Schlimmeres überlebt als Gelenksschmerzen, Stechen in der Brust oder Sehschwächen. Vor beinahe fünfundvierzig Jahren, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, hatte er seinen Beruf als Volksschullehrer wieder aufgenommen. Einmal im Jahr, meistens im Mai, hatte er die umliegenden Schulen der Umgebung besucht und den Kindern die Geschichte vom Drachentöter und seiner Liebe, von König Etzel, vom schwachen König Gunther, von Albrecht und dem Schatz der Nibelungen erzählt. Vor allem aber von Hagens Treue. Bedingungslose Treue. Oft war er dabei ins Schwärmen gekommen.
Auf die Frage, ob er sein eigenes Schwert, seinen eigenen Balmung besäße, hatte Jochen den Kopf geschüttelt. Er dürfe keine Spielzeugwaffen besitzen, das wollten die Eltern nicht. „Ein Ritter braucht ein Schwert“, hatte Leitner erwidert, „und du bist ja ein Ritter. Und ein Schwert ist kein Spielzeug.“ Er lud Jochen ein, ihn am Nachmittag zu Hause zu besuchen.
Kurz nach drei Uhr klingelte Jochen. Leitners Frau war nicht zuhause, und so öffnete Leiter selbst die Tür. Er gab Jochen die Hand und führte ihn durch das Haus in den Hinterhof, wo sich ein kleiner Schuppen befand. Dort hatte sich Leitner eine kleine Werkstatt eingerichtet. Leitner machte Licht, schloss die Tür und wies Jochen an stillzustehen, damit er Maß nehmen könne. Dann ging er in die Hocke, umfasste mit losem Griff Jochens Knöchel und fuhr das Bein mit einer kaum spürbaren Bewegung hinauf bis zu den Hüften. Dort löste er den Griff und schlug Jochen sanft mit der Handkante gegen das Hüftgelenk. Er lächelte ihn an und sagte, „so lange“, und er schlug Jochen noch einmal gegen die Hüfte, „so lange muss ein Schwert sein, damit es etwas taugt. Von hier“, dabei berührte er den Knöchel des Buben, „bis hier“, und er ließ seine Hand voll an Jochens Hüfte ruhen. Dabei blickte er Jochen ins Gesicht. Dann nickte er einige Male schweigend. Endlich ließ er Jochen los und stand auf. „Komm, wir schmieden dir ein Schwert.“ Er griff nach einer etwa zehn Zentimeter breiten und einen Zentimeter dicken Latte aus Eichenholz und lehnte sie sanft gegen Jochen. Dann nickte er und pfiff vor sich hin. Er bat Jochen, ihm das Lineal zu geben, bekam es und zeichnete die Umrisse eines Schwertes auf das Holz. Die Klinge war lang und schlank und der Knauf kurz und bullig. „Gefällt es dir?“ Jochens Augen blitzen. „Bemalen und verzieren freilich musst es du. Das kann ich gar nicht. Es ist dein Schwert, du musst es nach deinem Gutdünken und deiner Vorstellung verzieren. Nicht zu viel verzieren, ein Schwert ist kein Schmuckstück. Es ist eine Waffe, deine Waffe. Verstehst du mich?“ Jochen nickte mit funkelnden Augen und kaute verträumt an seiner Unterlippe. „Ich weiß, dass du mich verstehst“, lächelte Leitner und strich Jochen über den runden Hinterkopf.
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