Sitzt nicht da und denkt: «Ich mag das nicht, in meinem rechten Bein, meinem Rücken, meinem Nacken» – oder wo auch immer – «spüre ich solch ein Unbehagen.» Nein. Nutzt jede aufkommende Empfindung als Mittel zur Einsicht. Empfinden ist die Grundlage unseres Lebens. Die Art, wie wir reagieren, entsteht durch den Kontakt, den unsere Sinne herstellen. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und berühren; und natürlich denken wir auch. Der Buddha hat das Denken als den sechsten Sinn bezeichnet, und auch wir reden manchmal bei bestimmten Gedanken vom sechsten Sinn. Wären wir etwa blind, würden wir die Welt auf eine andere Art erfahren. Wären wir taub, so wäre sie wiederum anders. Das Gleiche gilt für alle übrigen Sinne. Wenn aber all unsere Sinne in Ordnung sind, treten wir durch sie zur Welt in Kontakt, und daraus erwachsen Empfindungen. Daran ist nichts zu ändern. Diese Sinneskontakte finden unweigerlich statt. Auch ein Arahant hat Empfindungen, und zwar drei Arten: angenehme, unangenehme oder neutrale. Wir alle haben sie. Die neutralen werden uns nicht bewusst, weil wir nicht aufmerksam genug sind. Wir verfügen noch nicht über genügend Achtsamkeit. Ganz sicher nehmen wir aber die angenehmen Empfindungen und Gefühle wahr, schwelgen in ihnen und suchen nach Mitteln und Wegen, sie aufrechtzuerhalten. Die gesamte Weltwirtschaft ist darauf angelegt, angenehme Empfindungen zu wecken und die Menschen dahin zu bringen, dass sie mehr davon haben wollen. Würden alle dies ablehnen, wäre dies gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch weiter Teile der Wirtschaft. Angenehme Empfindungen werden durch warmes Wasser, Kühlschränke, Ventilatoren, verschiedenerlei Nahrungsmittel, bessere Matratzen und vieles mehr ausgelöst.
Jeder hat Empfindungen – angenehme, unangenehme und neutrale. Sie treten in rascher Folge auf. Die meisten Menschen versuchen ihr ganzes Leben lang, angenehme Empfindungen festzuhalten und die unangenehmen zu vermeiden. Sie kämpfen einen aussichtslosen Kampf. Niemand kann die angenehmen Gefühle festhalten. Niemand kann auf Dauer den unangenehmen entgehen. Mit fortschreitendem Alter nehmen die unangenehmen körperlichen Empfindungen zu, wie manche schon feststellen konnten. Niemand ist davon ausgenommen. Das ist ein Naturgesetz. Der Tod ist eine Gewissheit und sehr oft mit außerordentlich unangenehmen Empfindungen verknüpft. Aber diese unangenehmen Empfindungen beschränken sich keineswegs auf Alter und Tod. Selbst junge, kräftige Menschen haben unangenehme körperliche und emotionale Empfindungen.
Wenn es uns gelingt – und sei es auch nur für eine Meditationssitzung –, einmal stillzuhalten und hinzusehen, vor dem Unangenehmen nicht wegzulaufen und nicht nach dem Angenehmen zu trachten, werden wir sehr viel über uns selbst in Erfahrung bringen. Betrachten wir die unangenehmen Empfindungen, die bei den meisten Menschen während der Sitzungen auftreten, so ist dies eine Möglichkeit zu sehen, wie wir reagieren. Man möchte sich dieser unangenehmen Empfindungen entledigen. So kommt es zu einer spontanen, impulsiven Reaktion, und man bewegt sich, um sie möglichst schnell loszuwerden.
Im Alltag versuchen wir, uns solch unangenehmer Empfindungen dadurch zu entledigen, dass wir uns jene Menschen vom Leib halten, die sie in uns auslösen. Damit geben wir andern die Schuld, statt die Empfindung zu beobachten und uns zu sagen: «Nun ist sie also aufgetreten, sie wird kurz da sein und dann wieder verschwinden. Nichts bleibt, wie es war. Wenn ich sie genau genug beobachte, dann lasse ich Achtsamkeit walten, statt zu reagieren.»
Indem wir so reagieren, dass wir ständig das Angenehme aufrechtzuerhalten und das Unangenehme loszuwerden suchen, schaffen wir die Grundlage dafür, dass wir uns ständig zwischen Tod und Wiedergeburt bewegen. Denn uns fehlt die Richtung. Wir bewegen uns im Kreis – immer weiter. Es ist ein Karussell ohne Ausstieg. In einem nicht enden wollenden Kreislauf versuchen wir immer wieder, Angenehmes zu behalten und Unangenehmes loszuwerden. Dem können wir nur dadurch entrinnen, dass wir die Empfindungen beobachten, aber nicht reagieren. Wenn wir das in der Meditation lernen – und sei es auch nur für einen einzigen Augenblick –, dann können wir es im Alltag mit großem Gewinn wiederholen.
Jeder macht unangenehme Erfahrungen im Leben. Die Leute sagen Dinge, die wir nicht gerne hören. Manche tun auch Dinge, die uns nicht recht sind. Es gibt Menschen, die uns nicht schätzen, nicht mögen, nicht anerkennen. Andere verlassen uns, obwohl wir sie gerne bei uns hätten. Wieder andere bleiben, obwohl wir sie viel lieber los wären. Diese Dinge widerfahren jedem. Selbst der Buddha wurde geschmäht. Auch er hat Situationen erlebt, die unangenehme Empfindungen hervorriefen, aber nicht darauf reagiert.
Man gibt einfach nur auf die Empfindungen acht. Tritt also im Körper eine unangenehme Empfindung auf, weil wir ungewöhnlich lange stillsitzen, dann gebt nichts und niemandem die Schuld daran. Niemand ist schuld, dass Empfindungen auftreten. Es handelt sich schließlich nur um Empfindungen, die auftauchen und wieder verschwinden. Beobachtet und erkennt die Empfindung. Solange ihr nicht in der Lage seid, unangenehme Empfindungen mit Abstand zu betrachten werdet ihr überhaupt nichts ändern können. Irgendwann einmal müsst ihr das einfach fertigbringen. Im Idealfall weiß man, dass die unangenehmen Empfindungen lediglich Empfindungen sind, nichts weiter. Diese Empfindungen treten ungebeten auf, und deshalb brauchen wir sie nicht als die unsrigen zu betrachten. Wir haben nicht um sie gebeten. Warum meinen wir dann, dass sie zu uns gehören?
Solange wir nicht wirklich erkennen, was in unserem Geist vorgeht, wenn diese Empfindungen auftreten, werden wir immer wieder in unsere lange eingeschliffenen, gewohnheitsmäßigen Muster verfallen. Was wir fortwährend denken und worauf wir immer und immer wieder reagieren, das hinterlässt Prägungen im Geist. Im Geist geschieht das Gleiche, wie wenn auf einer verschlammten Straße ein vor und zurück fahrendes Auto immer tiefere Fahrrinnen verursacht. Die Rinnen werden tiefer und tiefer, bis sie schließlich so tief sind, dass das Herauskommen aus der Fahrrinne und ein weiteres Vorankommen unmöglich scheint.
Dies ist genau die richtige Situation, eine echte Gelegenheit, unsere Reaktion auf unangenehme Empfindungen zu beobachten. Bitte keine Rationalisierung: «Das ist schlecht für mich, für meinen Kreislauf, ich sollte das nicht tun, sagt mein Arzt immer.» Nichts dergleichen. Es kommt hier lediglich darauf an, den Geist bei seinen Reaktionen zu beobachten. Der Geist ist ein schlauer Manipulationskünstler. Er kann wirklich alles. Wir nennen ihn einen Magier, und das ist eine treffende Bezeichnung. Unser Geist kann aus jedem Hut ein Kaninchen ziehen. Er kann alles so hinstellen, als ob alle anderen unrecht hätten und nur wir die Gescheiten seien.
Das müssen wir durch die Meditation lernen: Man kann unmöglich immer recht haben. Meist verteidigen wir lediglich einen Standpunkt, der auf unserem Ego basiert. Aufgrund dieses Ego, dieser Ich-Täuschung, sind alle unsere Standpunkte, all unsere Meinungen, von diesem Ich beeinflusst, ja entstellt. Das kann gar nicht anders sein. Hat die Fensterscheibe einen rötlichen Farbton, dann sieht draußen alles rot aus.
Wenn wir unseren Geist und seine Reaktionen nach und nach durch den meditativen Prozess kennenlernen, können wir akzeptieren, dass, während wir etwas denken, vier Milliarden andere Menschen etwas anderes denken. Ist es dann möglich, dass ausgerechnet wir das Richtige denken und die vier Milliarden das Falsche? Wir verteidigen einen Gesichtspunkt, der manchmal gültig sein mag – aber nur dann, wenn es um uns geht. Als Einziger voll und ganz richtig denkt ein Arahant, weil er nicht die Illusion eines Ego hat.
Dies sind mögliche Schritte, um dann Einsicht zu gewinnen, wenn wir nicht beim Atem verweilen, sondern wenn der Geist auf Eindrücke und Empfindungen reagiert. Jeder Augenblick kann dazu dienen, Einsicht zu erlangen, und daraus erwächst Ruhe. Ein bisschen Einsicht schafft ein bisschen Ruhe. Sehen wir ein, dass wir unseren Gedanken keine Aufmerksamkeit zu schenken brauchen, wird es leichter, sie einfach loszulassen. Erkennen wir, dass wir auf Empfindungen nicht unbedingt reagieren müssen, können wir diese Reaktion viel leichter vermeiden. Ein wenig Ruhe schafft auch ein wenig Einsicht. Beides sollten wir nutzen.
Читать дальше