Uns um unsere wahren Bedürfnisse und um die anderer zu kümmern – das ist der Weg, wie man Frieden findet; und um das zu erreichen, können wir uns in der Welt aktiv engagieren, und oft sollten wir dies sogar tun. Kampf ist nicht unbedingt schlecht. Wir können lernen, die Kämpfe des Lebens als interessante Herausforderungen zu betrachten. Allerdings ist es notwendig, eines zu begreifen: Welches Ziel wir auch vor Augen haben, sei es weltlich oder spirituell, starres Festhalten daran führt zu Erschöpfung, und wir tappen in die Falle der Ichbezogenheit. Die Kunst, ein ausgeglichenes Leben zu führen, läßt sich leichter ausüben, wenn wir wissen, was wir wirklich zum Leben brauchen.
Was ist wichtig für das menschliche Leben?
Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit, Fürsorge und Erziehung sind erforderlich, um das kostbare Leben des einzelnen zu erhalten. Als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft müssen wir einander achten und ebenso die Grundbedürfnisse und Institutionen respektieren, die anderen Menschen nutzen.
Abgesehen davon ist nichts Äußeres unserer Zeit, unseres Friedens, unserer Energie und Weisheit wert – der drei großen Geschenke unseres Lebens. Die anderen Annehmlichkeiten des Lebens dienen größtenteils als Werkzeuge, unseren begierigen Geist zu befriedigen, unser Ego anzubeten und aufzupolieren und unser Festhalten noch zu verfestigen. Während wir in weltlichen Genüssen schwelgen, wird unser Verlangen, noch mehr zu erjagen, immer ärger. Das Lalitavistara-Sutra warnt:
Dein Vergnügen an den Lüsten der Begierde
wird, wie das Trinken von Salzwasser, niemals Befriedigung bringen.
Arme und Reiche leiden gleichermaßen aufgrund von äußeren Sorgen, die mit Begierde zusammenhängen. Selbst Millionäre leiden unter Wut, Verzweiflung und Depression. Sie genießen wenig wahre Ruhe und wahren Frieden, sondern machen sich nur Gedanken darum, daß sie verlieren könnten, was sie haben, oder wie sie bekommen können, was sie nicht haben. Sie können ihren Status nicht genießen, sondern leben nur für das, wozu sie sich hingezogen fühlen oder wodurch sie versklavt werden. Es ist nicht so, daß Geldverdienen an sich Leid verursachen würde; aber das eigene Leben der Tyrannei äußerer Besitztümer auszuliefern, bedeutet das Ende von Freude und Frieden.
In ähnlicher Weise geraten arme Menschen durch den Kampf ums Überleben in eine Falle. Sie wagen nicht einmal das wenige zu genießen, was sie haben, aus Angst, sich noch mehr Kummer zuzuziehen. Als Mutter Teresa der Nobelpreis verliehen wurde, erzählte sie folgende Geschichte: Eines Tages nahmen die Missionsschwestern in Kalkutta ein Waisenkind in ihre Obhut und gaben ihm ein Stück Brot. Das Kind aß die Hälfte, wollte aber den Rest nicht essen. Als sie den Kleinen fragten, warum er denn nicht esse, sagte er: »Wenn ich das ganze Brot jetzt aufesse, wo krieg’ ich dann mein nächstes Brot her?« Erst als man dem Kind versichert hatte, daß es noch mehr bekommen würde, konnte es sich entschließen, die andere Hälfte des Brots zu essen.
Trotz des Fortschritts und materiellen Wachstums der modernen Zivilisation führen viele Menschen alles andere als ein sinnerfülltes Leben. Ob wir nun reich oder arm sind oder uns in einer annehmbaren Zwischenposition befinden, wir müssen uns davor hüten, an materiellen Genüssen auf Kosten unserer wahren Natur festzuhalten. Wenn wir unsere Energien dadurch verausgaben, daß wir nur über weltliche Dinge nachdenken und darüber, wie wir mehr von ihnen ergattern – bessere Nahrung, ein größeres Haus, mehr Geld, Ruhm und Anerkennung, was immer es an äußeren Gütern geben mag –, dann verlieren wir, was am wertvollsten ist.
Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf alles, das weit von uns selbst entfernt ist – je weiter es von dem, was wir in Wahrheit sind, entfernt ist, für um so wichtiger halten wir es. Wir stellen unsere Besitztümer und unseren Körper über unseren Geist, unsere äußere Erscheinung über unsere Gesundheit, unsere Karriere über unser Privatleben. Wir identifizieren uns mit dem Körper und betrachten unseren Geist bloß als Werkzeug des Körpers – als »den Edelpilz auf dem Hirn«, wie es einmal jemand mit einer kühnen Metapher scherzhaft formuliert hat –, wir schneiden uns selbst von der wahren Quelle des Glücks ab. Wir häufen Besitztümer für unser Zuhause an, kümmern uns aber nicht um unseren Geist und unseren Körper, obwohl die wichtigsten Voraussetzungen für ein Privatleben ein glücklicher Geist und ein gesunder Körper sind.
Als ich in Tibet heranwuchs, hackte einmal einer meiner Bekannten Holz und durchhaute dabei seinen neuen Schuh mit der Axt. Glücklicherweise blieb sein Fuß unverletzt, aber Schuhleder gilt in einem armen Land wie Tibet als wertvoll. Trocken und schlicht bemerkte er: »Hätte ich diese Schuhe nicht an, dann hätt’ es den Fuß erwischt, und der würde heilen. Zu blöd! Es hat halt doch meinen neuen Schuh erwischt, und der wird nie mehr heil!« Eine solche Betrachtungsweise ist sicherlich sehr merkwürdig. Aber nicht selten setzen die Menschen materielle Objekte an die erste Stelle, dann kommt der Körper und zum Schluß der Geist – und das ist das genaue Gegenteil der richtigen Reihenfolge.
Wir sagen vielleicht: »Ich möchte friedlich und stark sein.« Aber eigentlich schätzen wir es – und werden dafür auch belohnt –, uns eher aggressiv zu verhalten, um die Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse zu erreichen, als ausgeglichen und friedlich zu sein, um unsere innere Stärke zu hegen. Wir wenden mehr Zeit und Energie für unsere Karriere auf als für die Gestaltung eines erfüllten Privatlebens mit der Familie, obwohl wir von uns behaupten, wir arbeiteten, um ein glückliches Zuhause zu haben.
Wir leben wie Honigbienen, die normalerweise ihr ganzes Leben dem Sammeln von Honig widmen, diesen aber am Ende zur Gänze jemand anderem überlassen, der die Frucht ihrer lebenslangen Mühe erntet. Wir legen mehr Wert auf die Menge an verdientem Geld – und den übersteigerten Lebensstil, den es uns ermöglicht – als auf den inneren Zweck der Arbeit: Wir denken nicht darüber nach, ob die Arbeit uns selbst und anderen nützt. Wir gefährden unser kostbares Leben, um Geld zu verdienen, so daß wir schließlich anfangen zu trinken, um den Arbeitsdruck zu lindern, oder an Magengeschwüren erkranken. Geld ist für so viele Menschen zum Gebieter, Sinn und letztendlichen Ziel geworden.
Versuchen wir an unserem Geist zu arbeiten, um unsere Einstellung und unsere Eigenschaften zu verbessern, dann stempelt uns die moderne Gesellschaft als selbstsüchtig, unpraktisch und faul ab. Materiell produktive Menschen werden überschwenglich gelobt. Suchende, die sich auf den spirituellen Weg begeben, hingegen nicht. Wenn wir daheim bleiben und unser Interesse der höchsten Zufluchtsstätte des Lebens gilt, dann beurteilen uns die Leute nach dem Raster des regulären Berufslebens – als untauglich, unprofessionell und unqualifiziert. Unser Zuhause ist nur noch eine Art Motel: ein Ort, an dem man die Nacht über eine Pause macht.
Es ist notwendig, einige Dinge aufzugeben, um andere zu erlangen. Wie können wir denn bloß in Erwägung ziehen, unseren kostbaren friedvollen Mittelpunkt preiszugeben und das freudige Leben zu verspielen, das ganz natürlich davon ausstrahlt, nur um ein Leben voller Probleme durchzumachen? Es scheint, daß sich gegenwärtig nicht nur Durchschnittsmenschen, sondern sogar viele spirituelle Meister genötigt fühlen, der modernen materialistischen Kultur nachzujagen. Eine alte Geschichte veranschaulicht die Ironie dieser Situation:
Einstmals sagten Seher in Indien voraus, in sieben Tagen würden schwere Regengüsse fallen und jeder, der von dem Regenwasser tränke, würde wahnsinnig werden. Als der Regen kam, hatte der König viel reines Wasser für sich aufgespart, und so schützte er sich davor, wahnsinnig zu werden. Aber die Bevölkerung hatte bald kein reines Wasser mehr, und alle wurden verrückt. Bald fingen sie an, den König zu beschuldigen, er sei wahnsinnig. Um sein Volk zu verstehen und genauso zu empfinden wie es, trank der König daher Regenwasser und wurde wahnsinnig wie seine Untertanen.
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