Darüber hinaus war es in der Behandlung entscheidend, nicht nur ihren passiven, sondern vor allem ihren heutigen aktiven Anteil am dysfunktionalen Beziehungsgeschehen durchzuarbeiten. Mit anderen Worten: Was macht sie in der therapeutischen Beziehung, sodass ihre Angst, das Gegenüber wird sich abwenden, in meiner Gegenübertragung wahr werden konnte? Genauso wie das Fürden-anderen-Sorgen damals ein konstruktiver Umgang mit schwierigen Bedingungen war, manipuliert und kontrolliert sie heute damit das Gegenüber, wie auch mich. Die emotionale Einsicht, dass sie mit diesem unbewussten Relikt ihren bewussten Wunsch nach Kontakt boykottiert, konnte so wachsen.
Auf der Grundlage einer wertschätzenden, stabilen Arbeitsbeziehung kann es enorm hilfreich sein, diesen, von Patient*innen aktiv in den Kontakt gebrachten unbewussten Teil, der in der Gegenübertragung erlebbar ist, bewusst zu machen.
Als eine weitere zentrale Säule zur Entfaltung der Psychodynamik und als wertvolles Diagnoseinstrument in den ersten Begegnungen hat sich die Probetherapie bewährt.
Um einen Eindruck von einem möglichen gemeinsamen Therapieweg zu bekommen, ist es am besten, Therapie zu erleben. Eigentlich umfassen die gesamten ersten Begegnungen eine Art Probetherapie. Doch durch Anwendung einer geeigneten tiefenpsychologisch fundierten Intervention kann die daraus entstehende Beziehungsdynamik konzentrierter untersucht werden. Konkret formulieren Psychotherapeut*innen eine erste psychodynamische Hypothese in Form einer Frage. Mithilfe der Frageform werden Abwehrvorgänge nicht verstärkt, sondern autonome Suchprozesse angeregt.
Die Art der Intervention der Probetherapie ist abhängig von der psychischen Stabilität sowie vom augenscheinlichen Strukturniveau. Bei Patient*innen mit guten strukturellen Fähigkeiten ist die klassische Probedeutung geeignet. Durch Deutung soll die Bedeutung von unbewusstem Material erschlossen werden. Hier stelle ich einen sinnvollen Zusammenhang her zwischen einer auffälligen Szene in der Begegnung und etwas Passendem aus der vergangenen oder aktuellen Lebenssituation.
Beispielsweise: »Ich habe den Eindruck, dass Sie sich immer wieder bei mir entschuldigen wollen … es scheint, dass Sie hier ähnliche Schuldgefühle haben, wie Ihrer Frau gegenüber?«
Bei Patient*innen mit auffälligen strukturellen Defiziten oder hoher Symptombelastung versuche ich einen Zusammenhang zwischen den Symptomen und einem geeigneten Umstand in der Biografie herzustellen. Aus meiner Erfahrung ist es hier weniger ängstigend, wenn der Fokus zunächst nicht in der therapeutischen Beziehung liegt. Zusätzlich fühlen sich Patient*innen meist durch den erkannten Sinnzusammenhang des Symptoms entlastet.
Beispielsweise: »Könnte es sein, dass Ihre Antriebslosigkeit schon immer gut dafür war, die strenge Leistungstradition Ihrer Familie zu umgehen?«
Menschen mit umfassenden strukturellen Defiziten oder unter äußerster Symptombelastung können Deutungen als intrusiv erleben. Hier stelle ich meist eine mögliche positive Funktion des Symptoms in den Raum. Eine wertschätzende Anerkennung bewirkt in jedem Falle eine Entlastung der Patient*innen.
Zum Beispiel: »Könnte es sein, dass Ihre Antriebslosigkeit auch eine Fähigkeit ist, Nein zu sagen?«
Die spezifische Reaktion der Patient*innen auf die Probedeutung eröffnet viele Türen bei der Einschätzung einer ganzen Reihe von Patient*innenvariablen sowie der Prognose des Behandlungsprozesses. Die Probedeutung provoziert regelrecht die Introspektions- und Reflexionsfähigkeit; Therapeut*innen können Hinweise zu strukturellen Fähigkeiten sowie Defiziten, zur Therapiemotivation und zur Veränderungsmotivation und vielleicht eine Ahnung vom impliziten Therapieauftrag bekommen.
Den Patient*innen demonstriert diese Probetherapie einen Teil des Behandlungsprozesses und sie können leichter eine Therapieentscheidung treffen. Trotzdem bleibt es für die Hilfesuchenden in den ersten Begegnungen schwierig einzuschätzen, wie Psychotherapie ihnen helfen kann. Einige erwarten ausschließlich Verhaltenstipps, und es dauert, bis sie erlebt und verstanden haben, welchen Wert das Reden über sich selbst und welchen Wert Worte für sie haben können. Die Probetherapie gibt einen Eindruck davon, und die Aufklärung über konkrete Wirkungsweisen und Grenzen der Psychotherapie kann dabei unterstützen. Ich kläre zu Beginn dieser Reise gern bildhaft, dass es sich um eine Art Rucksackreise in den eigenen psychischen Innenraum handelt.
Es kommt gelegentlich vor, dass die Indikation einer ambulanten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie vorliegt und Patient*innen an deren Wirksamkeit zweifeln, Angst davor haben oder Hinderungsgründe der praktischen Machbarkeit vorgeben. Wenn die geäußerten Zweifel der Patient*innen dann – beispielsweise als unbewusste Ängste vor Abhängigkeit beim Einlassen auf Beziehungen – gedeutet werden, kann sich der Handlungsspielraum dadurch erweitern. Es macht jedoch wenig Sinn, Patient*innen von dem Einlassen auf eine Therapie zu überzeugen, sondern vielmehr vorhandene Zweifel aufzugreifen und zu thematisieren: Eine Therapie ist eine Zumutung. Wenn Patient*innen sich dann trotz anfänglicher Zweifel für eine Psychotherapie entscheiden, ist die Wahrscheinlichkeit für eine nachhaltige Selbsterfahrung und eine psychische Entwicklung hoch.
Wie in den letzten drei Abschnitten beschrieben, bekommen Psychotherapeut*innen durch die Teilhabe an der szenischen Gestaltung, durch das Erleben der Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik und das Erleben der Probetherapie – in der direkten therapeutischen Begegnung – einen Zugang zu den noch heute wirksamen, unbewussten Vorstellungen der Patient*innen über Beziehungen, zu zentralen Konflikten und damit auch zum Verständnis ihrer psychischen Störung.
Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie umfasst viele verschiedene Behandlungstechniken mit der Möglichkeit, sich auf die Bedürfnisse der Hilfesuchenden einzustellen. Gleichzeitig fußt sie auf einer gemeinsamen, bewährten Grundlage: dem Erleben und Verstehen der unbewussten Psychodynamik, der strukturellen Defizite und auch der verborgenen Potentiale im gemeinsamen therapeutischen Beziehungsraum.
An den Behandlungsbeispielen aus meiner ambulanten Praxis wurde vielleicht spürbar, dass vor allem die besondere Qualität des therapeutischen Kontakts in der Anwendung der Behandlungstechnik den Anstoß für eine Entwicklung und Heilung gibt. Daran knüpft die grundlegende tiefenpsychologisch fundierte Intervention an, die jeweilige Entsprechung der psychischen Störung im Hier-und-jetzt-Erleben der therapeutischen Beziehung zu finden und somit einer Bearbeitung zugängig zu machen. Die Hilfesuchenden »infizieren« mehr oder weniger schnell die therapeutische Beziehung mit ihrer Beziehungspathologie oder der mit ihrer psychischen Störung verbundenen Art, in Beziehung zu sein und die Behandelnden greifen sie ihrerseits im Beziehungsgeschehen auf. Genauso wie psychische Störungen immer mit Beziehung verflochten sind, können sie sich auch in Beziehung verändern.
Diese zentrale Intervention ist hocheffizient, aber die tägliche Arbeit ist mit Unsicherheit verbunden. Die der jeweiligen psychischen Störung zugrundeliegende Beziehungsdynamik muss gehalten, verstanden, konstruktiv verdaut und so in den Kontakt gebracht werden, dass eine effektive Therapie entwickelt werden kann, mit allen Irrtümern, die auch dazugehören, bei jedem*jeder Patient*in, in jeder Therapiestunde neu. Wie Michael B. Buchholz (Buchholz, 2007) herausarbeitet, umfasst die psychotherapeutische Kompetenz vor allem intuitive Kompetenz, nämlich implizites (Beziehungs-)Wissen und personales Können. Psychotherapeut*innen entwickeln sich, stellen sich immer wieder in Frage, kommen immer wieder an eigene Grenzen und machen sich immer wieder verletzbar.
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