Aber dabei ist es ganz anders.
Das Leben folgt einfach seiner natürlichen Bahn. Dinge entstehen, verweilen, vergehen nach uraltem Gesetz und manchmal sehr unerklärlichen Gesetzmäßigkeiten.
Vielleicht stellt man sich dann die großen Fragen: Woher komme ich, wohin gehe ich, wie mache ich das? Was ist der Sinn dieses Lebens, warum bin ich hier, was ist wirklich wichtig in diesem Leben? Wer bin ich eigentlich wirklich? Wer bin ich, ohne diese Geschichten, die ich erlebte und die sich manchmal in meinem Geist abspulen?
Diese Frage ist vielleicht der Beginn einer Reise zu sich selbst.
Wenn alle Geschichten dort gelassen werden, wo sie hingehören, nämlich in die Vergangenheit, gibt es ja hier immer noch jemanden, der sagt: Ich bin.
Kann ich dieses ‚Ich bin’ für eine kurze Weile einfach mal so stehen lassen und es nur erleben? Mich hier sogar ausruhen vom ewigen Machen und Tun?
Was finde ich hier bei mir, ohne Geschichten?
Anfangs kann es in der stillen Betrachtung sehr viel geistigen Lärm geben, der ganze geistige ‚Müll‘, als Abfallprodukt der gesammelten Geschichten. Dieser Teil in mir, der sich mit allen diesen Geschichten identifiziert, bekommt Angst, ohne sie nichts oder niemand mehr zu sein. Er verliert seinen Halt und hält sich gerne an diesen Geschichten fest.
Dieser Teil bezieht aus diesen Geschichten seine Identität, seinen Namen, seine Stellung, seinen Wert….
Dann geht es darum, den Weg zu finden zu meinem wahren Selbst.
Aber dieses Selbst hat keinen Namen, hat keine Form, keine Farbe. Es kann gefühlt werden als eine unendliche Weite, wie ein stiller Raum, wo es keine Bewegung gibt. Das ist der Ort, wo man sich ausruhen kann, wo man sein kann, ohne etwas Besonderes zu sein.
Der Verstand kann damit nichts anfangen. Denn der Verstand liebt die Bewegung, kennt sich in den Geschichten aus, ist daran gewöhnt, immer etwas zu tun, sich zu bewegen, in die Zeit zu gehen, und bietet alle diese Geschichten dem Selbst an.
Der Raum der Stille ist noch unerforscht, obwohl er die Basis für alle diese Geschichten ist, der Zwischenraum, die Stille, die nichts ist, außer sich selbst.
Und die Lebensreise beginnt.
Aber wenn schon leben, dann in vollen Zügen und mit Begeisterung, mit Liebe, Freude, Kraft und einem Ring am Finger, auf dem steht: Auch DAS wird sich ändern. Joseph Beuys rät zu Folgendem:
Öffne dich!
Lass dich fallen.
Lerne Schlangen zu beobachten.
Pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein.
Mache kleine Zeichen, die „ja“ sagen,
und verteile sie überall in deinem Haus.
Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen; schaukle so hoch du kannst
mit einer Schaukel … bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen.
Verweigere dich, „verantwortlich“ zu sein,
tu’ es aus Liebe.
Mache eine Menge Nickerchen.
Gib Geld weiter. Mach es jetzt. Das Geld wird folgen.
Glaube an Zauberei, lache eine Menge.
Bade im Mondschein.
Träume wilde, phantasievolle Träume.
Zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell dir vor, du wärest verzaubert.
Kichere mit Kindern. Höre alten Leuten zu.
Öffne dich. Tauche ein. Sei frei. Preise dich selbst.
Lass die Angst fallen, spiele mit allem.
Unterhalte das Kind in dir. Du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken. Werde nass.
Umarme Bäume.
Schreibe Liebesbriefe.
Verlaufen
„Jegliche Liebe ist eine Art Heimweh, eine Sehnsucht
nach einem verlorenen Paradies. Wir müssen uns
darüber im Klaren sein, dass wir Liebe nicht zu
erwerben brauchen, denn in der Tiefe unseres Selbst
sind wir „Verlangen nach vollkommener Seligkeit“.
JEAN KLEIN
Wir alle fühlen im tiefsten Inneren eine Sehnsucht nach Verbundenheit, nach der ursprünglichen, reinen Liebe, die sich manchmal fühlen lassen und sich mit uns selbst und anderen verbinden möchte. Doch wir haben diesen ‚Ort des Seins‘ verlassen und fühlen uns verloren in der großen Leere, alleine, unverbunden und einsam.
Die ‚Erbsünde‘ hat diese große Kluft entstehen lassen und diese tiefe, blutende Wunde des gefühlten Getrenntseins in unser Herz gerissen.
Dann aß Eva diesen Apfel vom Baum der zweifelhaften Erkenntnis von Gut und Böse, Positiv und Negativ und entfernte sich aus der Einheit des allumfassenden Seins und Adam folgte ihr direkt hinterher.
In diesem ‚Eins-Sein‘, nahm jeder Teil seinen ursprünglichen Platz ein und fügte sich harmonisch in das Ganze, ohne etwas Besonderes zu sein.
Begriffe wie: anders, größer, kleiner, wichtig, unwichtig, besser, schlechter existierten nicht, ja machten überhaupt keinen Sinn. Die ganze Bewertungsstruktur entfaltete sich mit diesem einen Biss, und der Mensch verlor seine naturgegebene Stellung in dieser Einheit.
Dann stand er da, nackt, unverbunden und schämte sich seiner Nacktheit.
Er hatte sich verlaufen und wusste nicht mehr, wohin er gehörte.
Er hatte seinen Platz, sein ursprüngliches Zuhause verlassen, aber die tiefe Sehnsucht danach hat ihn nie verlassen und brennt immer noch tief in seinem Herzen.
Aber um sich weiterhin fühlen zu können und eine Stellung und Position zu geben, setzte er sich vergleichend mit anderen Teilen in Beziehung. Somit kam Bewegung in dieses Spiel des Lebens.
Er entwickelte die Herzenstrübungen, um seine Position zum einen zu halten und zum anderen zu verbessern. Das war die Geburtsstunde des ‚Wollens‘, und mit ihm entstanden die anderen kleinen und großen Anverwandten des Wollens: Geiz, Neid, Eifersucht, Angst, etwas zu verlieren oder nicht zu bekommen, auch der Ärger und die Sorge reihten sich hier ein.
Alle Dinge, die das Wollen dann heranholte, verbanden ihn aber nur scheinbar mit ‚etwas da draußen‘, für kurze, vergängliche Zeit.
Diese Dinge konnten die Leere der tiefen Sehnsucht nach dem wirklichen Zuhause nie füllen.
Wir fanden nur scheinbar Wege, um diese Verbundenheit kurzfristig zu fühlen, aber erhofften uns ewige Zufriedenheit. Wir besorgen uns ‚Dinge‘, die uns freudvoll und glücklich stimmen. Wenn die Freude spürbar ist, verweilen wir im Moment und fühlen uns mit und über diese Dinge verbunden.
Aber diese ‚Dinge‘ bleiben nicht. Gehen sie, vergehen auch die Freude und das Glück.
Und so geht es weiter und weiter und weiter … bis zu der Erkenntnis: Ich habe mich abhängig gemacht von Glück und Freude, die ich im Außen bekam. Habe mein Wohlbefinden und meine Selbst-Wertschätzung in das Bewertungssystem der Anderen und der Welt gelegt und wurde so zum Spielball der Launen der ‚Welt‘.
Ich habe meine Kraft veräußert und bin abhängig geworden von Lob und Tadel, Anerkennung und Ablehnung, Freude und Glück, Ruhm und Ehre, habe mich selbst verloren, irgendwo da draußen, und versuche die Einzelteile meiner Ganzheit stückchenweise zurückzuholen.
Doch dort werde ich nichts finden, das dauerhaft bei mir bleibt, in dieser vergänglichen Welt mit ihren vergänglichen Erscheinungen. Ein Ankommen kann es so nicht geben.
Am Ende der Tage bleibt die Verzweiflung über die Irrwege und das nicht wiedergefundene Paradies. Es bleibt nur ein Strom von Sand, der mit einem Abschiedslied stetig durch meine Finger rinnt.
Dann sind meine Hände wieder leer. Weil es nichts, aber auch gar nichts zu halten gibt.
Wonach werde ich als Nächstes greifen?
Und so irrt der Wanderer weiterhin durch die heißen und kalten Wüsten der Einsamkeit, angetrieben, gestoßen, gedrängt von dieser tiefen Sehnsucht nach Liebe, nach Hierbleiben, Verbundenheit und stillem Sein …
Systeme
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