Mein alter Lehrer Ajahn Buddhadasa sagte einmal, dass etwas praktisch anwendbar sein müsse, damit es seinen Nutzen entfalten könne.
Dieses Buch hier möchte diesem Standard entsprechen und ich würde mir sehr wünschen, dass Sie einen praktischen Nutzen davon haben, der besonders im zweiten Teil angeboten wird.
Es ist mir eine Herzensangelegenheit, es in die Welt zu bringen in der Hoffnung, dass folgender Satz von Rumi zum Tragen kommt: „Das Wort, das aus der Seele spricht, das setzt sich ganz bestimmt ins Herz.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude und erkenntnisreiche Momente auf der Reise durch die Weite des Seins und zu sich selbst!
Mit guten Gedanken
Matthias Dhammavaro Jordan
ERSTER TEIL
Erfahre dein wahres Selbst
Geschichten
… wenn wir am Ende unseres Lebens
auf all das zurückschauen, was geschehen ist,
waren es alles nur Geschichten, die wir erlebten.
Aber genau genommen brauchen Sie gar nicht so lange zu warten, denn Sie haben ja schon eine bestimmte Wegstrecke Ihres Lebens zurückgelegt und können schon jetzt zurückschauen und die obige Betrachtung anstellen.
Wenn Sie in die Vergangenheit schauen, können Sie feststellen: Alles, was bislang geschah, hatte einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Alles, was bisher geschah und was Sie erlebten, waren nur Geschichten, die Einfluss, eine Qualität und eine richtungsweisende Wirkung hatten. Aber alle diese Geschichten haben Sie genau dahin gebracht, wo Sie jetzt sind, und das mitgestaltet, was Sie sind oder zu sein glauben, und sicherlich leben Sie auch gerade in einer oder mehreren Geschichten.
Jemand erzählte einmal dieses beeindruckende Gleichnis:
Angenommen, Sie werden bei Ihrer Geburt von einer Klippe hinunter in das Leben hineingeworfen. Der Aufprall unten ist Ihnen gewiss, aber wann, wer weiß das schon?
Und während Sie so fallen, machen Sie alle diese Lebenserfahrungen: Sie erleben die Kindheit und die Schulzeit, die Beziehungen zu all den Menschen um sich herum, die in die gleiche Richtung fallen. Hier ein kleiner Konflikt, dort ein Erfolg, dann die vielen Sorgen um die Zukunft, Ängste und depressive Verstimmungen, eine kleine Freude hier und dort, ein Mensch, der kommt, ein anderer, der Sie verlässt, und während Sie das alles so erleben, rauschen Sie im freien Fall immer näher dem Aufschlag entgegen.
Manche Menschen bleiben an einem Felsvorsprung hängen und schlagen dort auf, vielleicht nach 10, 20, 30 oder erst 80 Jahren des freien Falls.
Sie aber, und andere um Sie herum, fallen weiter und immer weiter dem sicheren Aufschlag entgegen.
Wenn Sie sich der Tatsache Ihrer eigenen Endlichkeit bewusst werden und diese Tatsache wirklich anerkennen, kann das zu bestimmten Konsequenzen führen.
Auf den kommenden Seiten lade ich Sie zu verschiedenen Betrachtungen ein. Ich werde Ihnen Geschichten erzählen, Lebensereignisse beschreiben, Vermutungen aufstellen, Religionen und weise Menschen zu Wort kommen lassen und hoffe, Sie auf eine kontemplative Reise mitnehmen zu können, die viel Raum für eigene Erkenntnisse lässt.
Einen Anfang finden
und ‚von hinten‘ schauen
Manchmal kann die Betrachtung von einem Ende der Anfang für etwas Neues sein, für eine neue Haltung, eine neue Sicht, einen neuen Lebensabschnitt, ein verändertes Leben. Es werden neue Prioritäten gesetzt, wie auch immer sich das für den einzelnen auswirkt.
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
würde ich im nächsten Leben versuchen,
mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen.
Ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter,
als ich es gewesen bin.
Ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen,
nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls Du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben;
nur aus Augenblicken, vergiss nicht den jetzigen!
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn
an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie, ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.
(Diese Version der ‚Lebensweisheit’ wird Jorge Luis Borges zugeschrieben.)
Unser Geist wird von vielen Gedanken bewegt, und die Inhalte dieser Gedanken handeln von Geschichten, Lebensgeschichten. Es ist sehr leicht, sich immer wieder auf diese Geschichten zu beziehen, denn sie sind das Offensichtliche. Aufgrund der ganzen Geschichten meines Lebens entstehen die verschiedenen Selbstbilder und meine Identitäten.
Aber, bin ich diese Geschichten?
Manchmal reden Leute von Selbsterfahrung.
Was Sie dann mitunter machen, ist einfach nur, die Geschichten noch mal zu erleben, die sie als ihr Selbst annehmen. Es werden Geschichten erfahren, aber nicht das Selbst.
Das wahre Selbst zu erfahren ist keine leichte Sache, sagen die Weisen. Es hat keine Form, es hat keine Farbe und es hat keine Geschichten an sich hängen.
Es gibt da keine Bewegung, die man beobachten könnte, sondern man kann sich nur mit der ihm innewohnenden Stille verbinden.
Ein Geist aber, der immer gewohnt ist, in Bewegung zu sein, und in diesem Bewegen auch noch eine gewisse Faszination empfindet, wird den Weg in den stillen Raum schwer finden. Die Gedanken, die Bewegungen, die Geschichten des Lebens sind viel interessanter und faszinierender als einfach nur ein stiller, leerer Raum.
Wenn man diesen Raum nie erlebt hat, weiß man noch nicht, dass in dieser Stille die Verbundenheit verborgen ist, die wir alle suchen, einhergehend mit Frieden, Liebe, Zufriedenheit und dem Gefühl, hier zu sein. Dazu kommt die Weisheit, die Fähigkeit, zu wissen, wie die Dinge wirklich sind.
Bewegungen hindern uns am Ankommen. Sie bilden Zwischenziele, bei denen es immer nur ein kurzes Verweilen gibt. Dann nimmt uns irgendeine innere oder äußere Kraft wieder mit auf die Reise, irgendwohin zu neuem Erleben, in welcher Form auch immer.
Und schon sind wir wieder ‚draußen‘ und auf der Jagd nach irgendetwas.
Solange sich diese Bewegungen und Reisen angenehm anfühlen, gibt es keinen Grund, nicht so weiterzumachen. An irgendeinem Punkt ihres Lebens stellen Menschen dann vielleicht fest, dass sie immer noch eine tiefe Unzufriedenheit spüren, obwohl sie eigentlich alles haben, was sie brauchen, und meistens haben sie sogar, was sie wollen, in Bezug auf Beruf, Karriere, Haus, Familie, Bankkonto und so weiter.
Das Leben läuft eigentlich genau so, wie sie es sich immer wünschten.
Manchmal werden Menschen in ihrem Leben wachgerüttelt: Die Frau verlässt ihren Mann, der Mann verlässt seine Frau, man bekommt eine Krankheit, man verliert seinen Job oder sein Vermögen, bemerkt, dass das Leben nicht immer das für einen bereithält, was man gerne möchte. Dann macht man sich selbst dafür verantwortlich, macht andere verantwortlich, sucht einen Schuldigen, den man dafür anklagen kann. Manche glauben, sie seien Versager, die irgendwann, irgendwo, irgendetwas falsch gemacht haben.
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