Kapitel 4
IN DIESEM KAPITEL
Die Rolle des Erwachsenen und seine Vorbereitung
Die sensorische Erziehung
Freiheit und Disziplin
Einzelarbeit: Selbstständigkeit und Selbstvertrauen
Eine der großen Veränderungen durch die Montessori-Methode ist, dass dem Erwachsenen eine völlig neue Rolle zuteilwird. Dies ist eine echte Revolution, wobei alle Mechanismen infrage gestellt werden, auf denen bisher alle sozialen Beziehungen in den westlichen Gesellschaften basierten. Der Erwachsene soll nicht mehr der autoritäre Lehrer sein, der all die Wahrheit vorgibt, die das Kind nicht anzweifeln darf.
Der Erwachsene, egal ob Eltern oder Erzieher, muss sich zurückziehen. Er muss das Kind einfach beobachten, um die Umgebung an dessen Entwicklung und Bedürfnisse anzupassen, damit das Kind selbst agieren und nach seinen eigenen Vorlieben Fortschritte machen kann. Er muss es begleiten und darf nicht mehr davon ausgehen, dass der Fortschritt des Kindes nach seinen Vorstellungen stattfinden muss. Der Erwachsene muss dem Kind Anleitung geben, Hilfe bei der Entwicklung und diese Rolle mit der größten Freundlichkeit, dem größten Respekt und der größten Liebe erfüllen, weil er verstehen muss, dass die gesamte Zukunft des Menschen im Kind liegt.
Eine neue Betrachtungsweise
Das Kind versucht, das Verhalten der Erwachsenen zu erkennen und nachzumachen. Aus diesem Grund müssen sich diese darüber bewusst sein, welchen Einfluss sie auf die Kinder haben. Jede ihrer Gesten, ihrer Gesichtsausdrücke, ihrer Haltungen muss reflektiert, maßvoll und gewichtet erfolgen. Die Gesten müssen ausreichend langsam sein, damit das Kind sie beobachten und verinnerlichen kann, die Haltung muss ruhig und gesetzt sein, damit sich das Kind sicher fühlt und auf einer harmonischen und friedlichen Basis aufbauen kann.
Die Erwachsenen denken häufig, dass gerade die lebendigen Kinder, die von einer Aktivität zur nächsten wechseln, größte Intelligenz zeigen, während diejenigen, die ruhiger sind, beobachten, als zurückgezogene Wesen betrachtet werden, die lernen müssen, aus sich herauszugehen und mehr teilzunehmen. Aber auch die Kinder, die sich verhalten bewegen, die beobachten, bevor sie handeln, müssen mit viel Respekt behandelt werden; die Erwachsenen müssen sie in ihrem Rhythmus gewähren lassen und nicht auf sie einwirken, um zu versuchen, dieses oder jenes Muster zu erfüllen, das ihnen angemessener erscheint. Diese Kinder sind häufig diejenigen, die nicht aktiv werden, auch nachdem sie integriert sind, weil sie wissen, dass sie fertig sind, ohne sich beteiligen zu müssen. Sie kennen sich schon sehr genau und beweisen echte interne Disziplin, die sehr beeindruckend ist, und der Erwachsene sollte nicht versuchen, ihnen einen Rhythmus aufzuzwingen, der ihm selbst entspricht und nicht dem Kind. Der Erwachsene muss ein wohlwollender Beobachter sein.
Die Persönlichkeit des Kindes respektieren
Der Erwachsene muss das Kind mit dessen Persönlichkeit respektieren. Dazu muss er sich so weit wie möglich zurücknehmen, weil sich das Kind in seinem Willen, zu lernen, leicht von den Haltungen des Erwachsenen beeinflussen lässt. Wenn der Erwachsene nicht aufpasst, entwickelt das Kind leicht ein Schuldgefühl ihm gegenüber, oder den Willen, es immer besser und besser zu machen, wenn der Erwachsene ein unerreichbares Ideal darstellt. Es kann sich durch die zu starke Persönlichkeit des Erwachsenen klein fühlen, weil diese das Kind daran hindert, seinen eigenen Charakter zu finden.
Der Erwachsene muss also sehr aufmerksam sein und sich zurückziehen, als Hilfe für das Kind, weil er häufig unbewusst seine eigene Meinung vorschlägt. Selbst wenn der Erwachsene versucht, sein Bestes zu tun, mit der größtmöglichen Liebe für das Kind, kann die Unkenntnis der wahren psychischen Bedürfnisse des Kindes dazu führen, dessen tiefste Natur zu beschädigen.
Jeder Erwachsene, der mit Kindern arbeitet, sollte sich intern vorbereiten, sich schulen, sich ausbilden, bevor er beginnt, die Jüngsten zu begleiten. Er soll dabei nicht zu einem perfekten Menschen werden, ohne jeden Fehler, sondern sich Anleitung holen, die ihm gestattet, die Entwicklung des Kindes zu begleiten, um in der Lage zu sein, es anzuleiten, ohne es zu verletzen oder ihm den eigenen Willen aufzubürden.
Das Kind kann sich gegen den Erwachsenen nicht verteidigen, es glaubt alles, was dieser ihm sagt, und übernimmt die Schuld für alles, was ihm der Erwachsene vorwirft. Der Erwachsene ist stärker als das Kind, das nicht über die Mittel verfügt, um alle Handlungen des Erwachsenen zu begreifen. Dieser muss deshalb verstehen, inwieweit sein Wesen einen Einfluss auf das Kind nimmt, und sich darüber bewusst sein, dass die Arbeit oder das Leben mit einem Kind eine enorme Verantwortung bedeutet, weil er dieses Wesen auf seinem Weg zum Erwachsensein beeinflusst. Der Erwachsene muss sich deshalb selbst kennen, um seine Reaktionen zu beherrschen und sie das Kind nicht erdulden zu lassen.
Die erste Montessori-Lehrerin
Die erste Lehrerin im Kinderhaus von San Lorenzo war eine Arbeiterin. Sie hatte noch nie unterrichtet, deshalb begann sie ihre Aufgabe ohne Vorurteile, mit einer inneren Ruhe und ohne vordefinierte Erwartungen. Die analphabetischen Eltern griffen wenig bis überhaupt nicht ein und überließen es den Kindern, ihre Erfahrungen in dieser sehr speziellen Klasse zu machen. Das Material, das Maria Montessori geschaffen hatte, ermöglichte eine sensorische Ausbildung.
Es ist schwierig für den Erwachsenen, alles zu vergessen, was er schon immer über Unterrichtsmaterial wusste, deshalb spricht Maria Montessori von einer weitreichenden Arbeit an sich selbst, einer echten Infragestellung der Prinzipien, die einem beigebracht wurden, bevor die Arbeit mit dem Kind aufgenommen wird. Dies gilt offenbar auch für Eltern oder werdende Eltern, weil sie die ersten und die wichtigsten Lehrer der Kinder sind, ihre absoluten Vorbilder, die sie über alles lieben. Die Erwachsenen müssen sich deshalb wirklich zurücknehmen, mit dem Ziel, ihren eigenen Kindern zu helfen.
Hilf mir, es selbst zu tun!
Der Lehrer ist also nicht der Allwissende, der alle Geräte perfekt beherrscht und alles weiß, sondern derjenige, der die wahre Natur des Kindes kennt. Einer der größten Fehler des Erwachsenen, häufig aus Liebe begangen, ist es, etwas anstelle des Kindes zu tun. Der Erwachsene soll dem Kind nur helfen, wenn dies absolut notwendig ist.
Das Kind, das anhand der Aktivitäten für das praktische Leben gelernt hat, kann selbst essen, seinen Tisch decken, ihn abräumen, kann sich selbst waschen, wenn man ihm zeigt, wie das geht, sich anziehen, schlafen gehen und sich seinen Aktivitäten widmen. All dies ist schon sehr früh möglich, ohne dass der Erwachsene eingreift.
Eines der größten »abweichenden Verhalten«, wie Maria Montessori es nennt, stammt aus der Tatsache, dass der Erwachsene etwas anstelle des Kindes macht. Das Kind muss selbst probieren, um es zu erfassen, und die Mechanismen in seiner Umgebung selbst verstehen, um seine eigene Persönlichkeit kennenzulernen.
Jeder nach seinem Interesse
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