Gleich setzte ich mich so, dass ich Wiese und Briefkasten bequem im Auge hatte. Und wirklich: binnen Kurzem kam sie – jetzt eindeutig eine Kohlmeise – ohne Haare wieder aus dem Schlitz heraus, flog erneut zur Wiese, legte sich zwei neue Bärte zu und verschwand wieder im Briefkasten.
Dieses Treiben dauerte drei Wochen lang, genau so lange, wie mein Hund sein reichlich fallendes Winterfell im Garten verteilte. In dieser Zeit bastelte ich ein Schild mit der Aufschrift: „Keine Post einwerfen! Brütende Meise!“ und klebte es an den Kasten, als die Meise gerade auf der Wiese zu tun hatte.
Warten, Hoffen und Wünschen, diese schwierigen Geduldsübungen, die einem Briefkasten gut anstehen, lohnten sich auch diesmal. Schon Mitte April begann die Meise zu brüten, ich konnte deutlich beobachten, wie sie fleißig von ihrem Männchen gefüttert wurde. Anfang Mai flogen dann plötzlich zwei erwachsene Meisen unermüdlich hin und her, Mutter und Vater, und stopften Samen, Insekten, Larven, Spinnen und kleine Schnecken durch den Briefschlitz. (Kluge Menschen haben ausgerechnet, dass ein Meisenpaar und seine Nachkommen in einem einzigen Sommer über fünfundzwanzig Kilogramm Insekten und Kleintiere vertilgen! Falls sie nur einmal brüten. Oft brüten sie aber im Juni ein zweites Mal.)
Drei Wochen später, an einem schönen Mai-Vormittag, war es dann soweit: Die Kinder sollten fliegen lernen. Ich wurde Zeuge, wie Mutter Meise versuchte, sie aus dem Briefkasten herauszulocken. Offenbar machte es den jungen Meisen ziemliche Mühe, von innen durch den schmalen Schlitz zu rutschen und dabei gleichzeitig die Flügelchen zum Flug auszubreiten. Die Mutter hüpfte und lockte, flog immer wieder zwischen dem Briefkasten und einem nahen Pfirsichast hin und her, und schließlich gelang es dem ersten Jungvogel, ihr zu folgen. Nach einem heroischen Schlenker landete er auf der Wiese. Nun trauten sich auch die anderen. Es waren sechs.
In den nächsten Wochen staunte ich über die unendliche Geduld der Eltern, die, obwohl nach der Anstrengung des Brütens und Fütterns sicher arg erschöpft, in einem fort Nahrung in aufgerissene Schnäbel stopften. Und das, obwohl – wie ich genau sehen konnte! – die Kleinen, die bald ebenso groß waren wie ihre Eltern, durchaus schon selbst fressen konnten! Dies taten sie allerdings nur, solange Mutter und Vater unterwegs waren, um Futter heranzuschaffen. Dann pickten sie fröhlich herum, fanden auch schon dies und das, kaum aber kamen die Eltern in Sichtweite, begannen sie herzzerreißend zu betteln, rissen die Schnäbel auf, schrien erbärmlich, zitterten mit den gespreizten Flügeln und verfolgen ihre Eltern in diesem jämmerlichen Zustand penetrant. Es wirkte. Die Altvögel waren den ganzen Tag mit Füttern beschäftigt.
Nach zwei Wochen konnte ich Eltern und Kinder nicht mehr unterscheiden und auch das Bettelgeschrei verstummte. Dafür habe ich seitdem immer freundliche kleine Gäste. Gleich morgens, wenn ich aus dem Haus trete, sind sie da. Kohlmeisen sitzen auf meinem Frühstückstisch, auf dem hochgeklappten Bildschirm meines Laptops, auf meiner Schuhspitze, wenn ich die Füße hochlege, auf der Wäscheleine in der Weinlaube oder auf dem Rand der Kaffeetasse. Sie fliegen mir um den Kopf, wenn ich eine Pause mache, ja, eine ist gar so dreist, sich während des Schreibens auf meinen Kugelschreiber zu setzen und daran herumzupicken. Auch erinnern sie mich sofort lautstark an ihr Gewohnheitsrecht, falls ich einmal vergesse, die Frühstücksbrotkrümel ins Futterhaus zu werfen. Oder schimpfen mit mir, wenn ich mich erdreiste, Erdnüsse oder Kuchen zu essen, ohne ihnen etwas davon abzugeben.
So nah kommen sie aber nur heran, wenn ich allein bin. Habe ich Besuch, beobachten sie mich und die fremden Menschen misstrauisch aus sicherer Entfernung.
Ich mag sie sehr, diese schönen Tiere. Obwohl ich für sie vermutlich lediglich zum nützlichen Inventar ihres Reviers gehöre. Genau wie der Hund. Und der Briefkasten. In dem sie hoffentlich im nächsten Jahr wieder brüten.
Blutlaus, Schildlaus und Konsorten
April. Die Zeit, in der das Leben erwacht. Überall Auferstehung. Kraftvoll treibt es auf den Beeten. Innerhalb kürzester Zeit wachsen die Rosenblätter, belauben sich die Bäume, überholen die Kartoffeln und Sonnenblumen die Sellerie- und Kohlrabisetzlinge. Konnte man sich vor Kurzem nicht vorstellen, dass der Garten je wieder grün werden würde – nun ist der Beweis erbracht, dass das Leben stärker ist.
Aus demselben Grund werden nun aber auch Unmengen von Blattläusen munter, die jetzt plötzlich auf allen Trieben zu finden sind. Und die Blattrollwespen, die meine Rosenblätter wie heruntergekommene Wurstfabriken aussehen lassen. Und die Maden des Frostspanners, die die wenigen Blätter, die sich noch nicht rollen, zum Frühstück verspeisen. Und der auf- oder absteigende Rosentriebbohrer, der das Mark der Rosen frisst, der Dickmaulrüssler, das Lilienhähnchen, die Spinnmilbe, Zikade, Rebenpockenmilbe, Afterraupe, Blutlaus, Schildlaus, Blattwanze und wie sie alle heißen.
Und als wäre das nicht genug, schießen nun auch noch gruselige schwarze Pilze am Rande des Gemüse-beetes aus dem Boden, glänzende Schirme auf hauchdünnen, schleimigen Stielen. Und auch die anderen Pilze, die viel schrecklicheren, Rosenrost, Sternrußtau, Mehltau oder die furchtbare Monilia, die den halben Sauerkirschbaum dahinrafft und meinem geliebten Pfirsichbaum schwer zu schaffen macht, sind nicht mehr aufzuhalten.
Ein Wettlauf beginnt. Wer ist schneller? Die Pflanze oder die stechenden, saugenden, fressenden Insekten, die über sie herfallen? Die Pflanze oder das Pilzgeflecht? Besonders die jungen Triebe, die man so sehnsüchtig erwartet hat, werden jetzt mit Vorliebe attackiert, angebohrt, verstümmelt und infiziert, bevor sie überhaupt eine Chance haben, groß und wehrhaft zu werden. Die gerade erst entfalteten Pfirsichblätter verkräuseln sich rasant zu fürchterlich rotfleckigen, blasigen Gebilden, fallen ab und liegen wie ein einziger Vorwurf auf dem Weg. Ich werde furchtbar wütend! Meine geliebten Pflanzen! Wie soll ich das aushalten?
Nachdem ich eine Weile vor mich hin geflucht habe, greife ich zur Mülltüte und beginne, stundenlang kranke Blätter einzusammeln und abzuschneiden. Wenigstens sollen sich Pilze und Schadinsekten nicht auch noch im Boden vermehren. Ich hole sämtliche Stärkungsmittel hervor, die mir einfallen, ertrage den Gestank der Brennnesseljauche, koche Schachtelhalmsuppe und Knoblauchtee und hülle meine Pflanzen in eine Kraftwolke. Trotzdem muss ich ein paar Tage später erneut mit Mülltüte und Schere losziehen und mit ansehen, wie eine Rose, eine Azalee und der weiße Phlox der Invasion zum Opfer gefallen sind. Als ich die völlig zerfressene kleine Rose immer weiter herunterschneide und feststelle, dass sie bis in die Wurzel hinein ausgehöhlt und tot ist, packt mich eine entsetzliche Trauer. Ich grabe aus, was von ihr übrig ist und versenke es im Müllbeutel.
Ich kann nicht zaubern. Ich muss lernen, das Sterben auszuhalten. Heulen hilft ein bisschen.
Was mir auch hilft, ist die Entscheidung, trotz meines Unglücks nicht zum Baumarkt zu fahren. Ich werde kein Gift kaufen. Ich möchte es weder selbst einatmen noch in der Welt verbreiten, noch die wenigen Marienkäferlarven, die sich redlich mühen, die Läuse zu fressen, damit töten. Gift unterscheidet nicht zwischen Blattlaus und Regenwurm, nicht zwischen Rostpilz und Biene, nicht zwischen Frostspanner und Blaumeise. Dann opfere ich lieber ein paar Pflanzen.
Erstaunlicherweise sieht der Garten einige Wochen später immer noch recht lebendig aus. Die meisten Pflanzen haben Laus, Pilz und Made tapfer widerstanden, haben neue Blätter und neue Triebe geschoben, sich breitgemacht und die Lücken der Verstorbenen ausgefüllt. Rotschwanz, Nachtigall und Meise haben reichlich Lebendfutter für ihre Kinder gefunden. Und so ist das Gleichgewicht im Großen und Ganzen wieder hergestellt.
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