„Hallo Paula“, rief Orsini halblaut.
Paula blieb stehen und drehte sich um. Eine Spur zu erwartet für Orsinis Gefühl.
„Conrad? Was machst du da?“
„Ja also, ich ...“ Nun, da er ihr nach so langer Zeit – es waren mehr als vier Jahre vergangen – endlich wieder gegenüberstand, fehlten ihm die Worte. Was hatte er nicht alles sagen wollen oder zu einer imaginären Paula längst gesagt! „Kann ich dich ... kurz sprechen?“, druckste er herum.
„Tust du ja schon“, antwortete Paula und musterte ihn. Er hatte sich kaum verändert. Kleine Fältchen an den Augen, unrasiert wie immer, sogar derselbe Mantel ... Was er nach all den Jahren plötzlich von ihr wollte?
Orsini hielt ihrem Blick stand. „Darf ich dich zum Essen einladen?“
„Zum Essen?“ Zorn stieg in Paula hoch. „Du meldest dich vier Jahre nicht, bist unauffindbar – und dann willst du einfach essen gehen!? Sonst fällt dir nichts ein?“ Sie zog ihren Schal enger um den Hals und wandte sich zum Gehen.
„Warte Paula! So hab ich’s nicht gemeint – es tut mir leid! Ich wollte dich anrufen, ich ...“
Paula sah ihn funkelnd an. „Was?!“
Orsini schwieg, hatte es sich leichter vorgestellt – aber Paula hatte recht ... „Ich bin ein Idiot“, gab er klein bei, „ich wollte mich bei dir entschuldigen, glaub mir, aber zuerst hab ich nicht gewusst, wie, und dann ... dann war’s zu spät.“
„Zu spät!“, antwortete sie mit erhobener Stimme sah ihn abwägend an. Nur langsam vermischte sich ihr Zorn mit Nachsicht und ging über in ein vages Schmunzeln. Immerhin hatte er über eine Stunde in der Kälte auf sie gewartet, wenn auch – darauf wollte sie wetten – nicht nur aus alter Freundschaft, sondern gewiss noch aus einem anderen, praktischen Grund.
„Gut, meinetwegen. Hunger hab ich ...“
„Danke“, antwortete Orsini erleichtert und holte endlich wieder Luft. „Könnten wir irgendwo hingehen, wo keine ehemaligen ...“
„… Kollegen sind? Klar, lass uns in die Institutsmensa gehen. Da kommt bestimmt keiner hin.“
„Okay“, antwortete Orsini.
Sie wirkt nicht überrascht, ging es ihm abermals durch den Kopf.
Leicht verunsichert gingen sie nebeneinander her, wie zwei Fremde. Ohne es aufhalten zu können, stieg die Erinnerung an die allzu seltenen Male der Zweisamkeit in Orsini hoch und er sah sich Arm in Arm mit ihr durch die Stadt spazieren. Und jetzt: Distanz.
„Wie geht’s dir?“, fragte Paula nach einer Weile wie nebenbei und stieg auf die abwärts führende Treppe in die Fußgängerunterführung.
„Gut eigentlich ... kann nicht klagen“, entgegnete Orsini aus den Gedanken gerissen und blieb kurz in der Passage zwischen den zwei laut rumpelnden Rolltreppen stehen. „Und dir?“
„Totaler Stress ... aber das kennst du ja von früher“, sagte Paula und stellte sich auf eine der geriffelten Metallstufen, die nach oben führten. Beim Ausgang herrschte Gedränge und eine Straßenbahn fuhr in die Haltestelle ein. „Bin aufgestiegen.“
„Ah, gratuliere.“
„Und du? Ich hab gehört du bist privat unterwegs, oder hast du plötzlich Heimweh nach dem Büro?“
„Nein, kein Heimweh“, lächelte Orsini, „aber ich arbeite gerade an einem ... interessanten Fall.“
Wieder durchbohrten ihn ihre Blicke. „Du bist also wegen des Falls hergekommen?“
„Nein, nicht nur“, beschwichtige Orsini sofort, wurde aber von der anfahrenden Straßenbahn übertönt.
„Was hast du gesagt, Conrad? Ich hab dich nicht richtig verstanden!“
„ Nein ..., ja, das heißt: Ich stecke fest und bräuchte deine Hilfe.“
„Wieso grade ich?“
Orsini erwiderte ihren scharfen Blick und zuckte hilflos mit den Schultern. Schweigend marschierten sie weiter. Was sollte er antworten? Ich bin ein verdammter Feigling – wieso sage ich ihr nicht, dass ich vor allem wegen ihr hier bin?, dachte er und hielt ihr die Tür zum Institutsgebäude auf.
„Höflich wie immer“, ätzte Paula, obwohl sie genau das immer an ihm geschätzt hatte. Sie war entschlossen, ihn büßen zu lassen.
„Und die Rechnung geht auf mich“, versuchte Orsini tapfer die Stimmung zu glätten. Wortlos nickte Paula und ließ sich auch noch aus dem Mantel helfen.
„Danke“, sagte sie schließlich, „ich nehm das Menü eins und ein Mineralwasser.“
Orsini sah auf die handgeschriebene Tafel, entschied sich für Menü drei und ging zur Essensausgabe.
Vielleicht hätte ich ihn nicht so lange auf der Bank warten lassen sollen – noch dazu bei der Temperatur ..., regte sich ein wenig Paulas schlechtes Gewissen. Dass ausgerechnet ihr Vorgesetzter Pokorny ihn durchs Fenster gesehen hatte, war natürlich ein kurioser Zufall. Zumindest umarmen hätte er mich können!, rutschte ihr ein unerwarteter Gedanke dazwischen.
„So“, sagte Orsini und verteilte die Teller.
„Immer noch derselbe Mantel“, stichelte Paula.
„Hab eigentlich einen neuen, aber der ist gerade in der Reinigung. Da musste ich ihn halt wieder hervorholen ... Leder hält ja bekanntlich ewig.“
„Hast du eigentlich noch Kontakt zu ehemaligen ...?“, fragte Paula beiläufig, obwohl sie wusste, dass er die Kollegen von früher mied.
„Eigentlich nicht“, erwiderte Orsini aufrichtig, wich ihrem Blick aber aus.
„Bist du gar nicht neugierig?“
„Weiß nicht – vielleicht auf die neueste Theorie vom Elmar“, kratze er die Kurve, um der unangenehmen Frage auszuweichen.
„Tätowierungen“, unterbrach Paula und musste spontan lachen.
„Tätowierungen?“, wiederholte Orsini, während er das Fleisch auf seinem Teller zerteilte.
„Ja! Vom riesigen Totenkopf auf der Brust bis zum winzigen Ich-trau-mich-auch-Schmetterling auf dem Schulterblatt hat Elmar eine Einteilung vorgenommen, die zusammen mit Größe, Körperstelle und was weiß ich noch eine Kategorisierung zulässt. Monatelang hat er daran herumgetüftelt, ist in den absonderlichsten Kellern und Studios herumgekrochen und war nicht mehr davon abzubringen.“
„Unglaublich, wär ich nie drauf gekommen, die Menschen so einzuteilen“, erwiderte Orsini, froh, dass sie zu einem leichter verdaulichen Thema hingefunden hatten.
„Davor waren es übrigens Gürtelträger, ist doch ein nahtloser Übergang, findest du nicht auch?“
„Stimmt“, lachte Orsini und erzählte eine weitere Anekdote über ihren ehemaligen Kollegen, der ein Faible für skurrile Methoden der Qualifizierung von Menschen sowie deren Obsessionen hatte. Er hatte immer wieder für Erstaunen und Heiterkeitsausbrüche im Team gesorgt, manchmal aber auch Treffer gelandet, die sich niemand erklären konnte.
Sie plauderten eine Weile belanglos dahin. Paula fragte sich, wie lange er brauchen würde, um zur Sache zu kommen. Helfen würde sie ihm dabei gewiss nicht!
Und so waren sie beim Dessert angelangt, als Orsini endlich damit herausrückte. „Ich bräuchte deine Hilfe“, begann er zaghaft.
„Wobei?“
„Bei einer ... Erbschaft.“
„Erbschaft? Und dazu brauchst du mich? Ist das nicht unter deinem ...“
„Ja, ich weiß“, sagte Orsini leicht verärgert, „der Erblasser ist allerdings nicht von selbst gestorben.“
„Und du hast da irgendwelche Zweifel, stimmt’s?“
„Stimmt. Schmeckt’s eigentlich?“
„Ganz passabel für ein Menü.“
„Und was brauchst du jetzt von mir?“
„Nichts weniger als“, Orsini machte eine Pause und warf einen verstohlenen Blick auf Paulas Wange. Jochbeinbruch, hatten sie ihm gesagt, Gehirnerschütterung und ein ausgeschlagener Zahn. Die Narbe war zwar gut verheilt, aber doch sichtbar. Er trank einen Schluck und fuhr fort: „... als die gesamten polizeilichen Ermittlungsergebnisse.“
„Nicht grade wenig. Um welchen Fall geht’s überhaupt?“
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