Die Macht strömte als sanfte Welle von ihr aus zu den Brüdern. Die Männer drehten sich neuerlich zu ihr um. Nun senkten sie den Blick zu Boden und legten eine Hand auf die Stelle ihrer Brust, unter der ihr Herz schlug.
»Seht den neuen Ältesten der Bruderschaft!
Sein Blut schenkt uns auf ewig jugendliche Kraft.
In deine Hände legen wir unser Leben.
Wir sind bereit, unseres für deines zu geben.
Wir folgen deinen Entscheidungen rund um die Welt.
Damit der Glanz der Brüder die Dunkelheit erhellt.
Lang lebe der Älteste !
Adolescentia Aeterna über alles!«
Die Untergebenen huldigten ihrer Königin. Eva musste aufpassen, dass ihr die Macht nicht zu Kopf stieg. Sonst endete sie wie einer der zum Abdanken gezwungenen Ältesten. »Ich danke euch. Macht weiter … mit was auch immer.«
Eva sah sich um. Ein riesiger Christbaum mit kleinen, glitzernden Diskokugeln stand in der Mitte der Tanzfläche, überall lag Engelshaar und Lametta auf den Tischen, riesige Kerzen, Girlanden, Blumengestecke schmückten alles. Mimi würde ihr eine gesalzene Rechnung präsentieren.
Ihre Freundinnen eilten auf sie zu. »Was für ein Auftritt«, lachte Ellen über das wieder einsetzende Gemurmel der Männer hinweg. Die Mädels wünschten sich frohe Weihnachten.
»Du hast es etwas übertrieben, Mimi. Dieser ganze Glitter und so. Was das kostet!« Eva bemerkte die Enttäuschung in Mimis Blick und fügte schnell hinzu: »Es gefällt mir. Danke für deine Mühe.«
Ein breites Grinsen erschien auf Mimis Gesicht. »Du solltest dir besser an deine eigene Nase fassen. Verlangst du demnächst, dass wir alle auf den Knien vor dir rutschen?«
»Das heben wir uns für die großen Feste auf.« Eva zwinkerte ihrer besten Freundin zu und griff nach Juls Arm. Anun wurde von Manus begrüßt und schien bei dem Bruder gut aufgehoben. »Setzen wir uns«, schlug Eva an Jul gewandt vor.
»Ich kann stehen«, grummelte der.
Eva lotste ihn trotzdem zu einem Sofa und nahm neben ihm Platz. Dann strich sie über seine Wange. »Diese Art von Spielchen bei der Begrüßung werden nicht mehr vorkommen.«
»Das ist eine Erleichterung.«
Die von ihm ausgehenden Wellen dieses Gefühls überraschten sie. »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe die Macht unter Kontrolle. Ich bestehe nicht darauf, dass mir Ehrerbietung gezeigt wird. Das wäre albern.«
»Einen Moment dachte ich …« Jul verstummte.
»Nicht mehr als ein Scherz, Süßer. Ich bin kein Monster.« Sie beugte sich zu ihm und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Lass uns das Treiben ein paar Minuten genießen, bevor ich meine Rede halte.«
»Eine Antrittsrede, als wärst du zum neuen Bundespräsidenten gewählt worden?«
Eva zuckte mit den Schultern. »Es gibt einiges zu sagen.«
»Du wirkst …« Jul griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Ich weiß nicht, wie ich das Gefühl beschreiben soll. Da ist so eine Unruhe, die dich umgibt, wann immer du dich unbeobachtet glaubst.«
Eva blickte auf ihre verschränkten Hände. »Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht.«
Juls Gesichtsausdruck wurde ernst. »Du willst die Regeln ändern.«
Sie sah auf und nickte.
»Du hast nicht mit mir darüber gesprochen.«
Und das hatte seine Gründe. »Ich weiß, dass du nicht begeistert bist.«
»Das stimmt nicht. Ich dachte nur, dass du mit mir als deinem Partner -«
»Ich werde nicht darüber diskutieren. Änderungen sind notwendig.« Sie unterdrückte das erste Aufflammen von Verärgerung.
»Das verstehe ich. Trotzdem wäre es schön gewesen, von deinen Plänen vor allen anderen zu erfahren. Nicht, weil ich vor dir der Älteste war, sondern weil wir uns lieben.«
Die Traurigkeit in seinen Augen weckte ihre Schuldgefühle. »Du hast recht. Es tut mir leid. Ich habe befürchtet, dass du versuchst, mir die Sache auszureden.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vertraue dir.«
Drei Worte. So schlicht und doch so wahrhaftig. Sie bedeuteten mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Er stand hinter ihr und ihren Entscheidungen. Ohne zu wissen, wie sie aussahen. In dem festen Glauben, dass sie das Richtige tat. Bedingungslose Liebe.
»Die Zeit der Zweifel ist vorbei«, meinte Jul.
Sie verlor den Boden unter ihren Füßen. Sie fiel in die Tiefe, doch seine Liebe schenkte ihr Flügel. »Ich werde dich nicht enttäuschen.« Wie sehr sie hoffte, dieses Versprechen niemals zu brechen.
»Dann lass uns loslegen … Ich meine: Leg los.«
Noch einmal küsste sie ihn. Ließ sich Zeit, seinen Geschmack, das Gefühl seiner Lippen auf ihren, das Begehren, den Rausch zu genießen. Als sie sich von ihm löste, lächelte sie. »Komm, mein König.«
Obwohl sie vorgehabt hatte, ihm die Gelegenheit zum Ausruhen zu geben, erhob sie sich mit ihm und blickte in die Runde. Sie zapfte die Macht an. Einer nach dem anderen wandte sich ihr zu.
»Ich danke euch für euer Kommen. Auch wenn viele von euch nicht an die Geburt Jesu Christi glauben. Bevor ich euch das Geschenk zeige, das ich für euch habe«, sie lächelte über die Freude in den Augen der Brüder, »möchte ich eine Ankündigung machen.«
Das Fallen einer Nadel wäre in diesem Augenblick so laut wie eine Bombenexplosion gewesen. Niemand rührte sich.
»Die Neuordnung von Adolescentia Aeterna , meine … Inthronisation, kann nicht ohne Folgen bleiben. Ich will die Bruderschaft in minimalem Ausmaß öffnen. Aber ihr einundzwanzig werdet immer zum inneren Kreis gehören.«
Leises Gemurmel setzte ein.
»Ich spreche bewusst von euch zwanzig UND Jul. Die Voraussetzung dafür, dass ich meine neue Position behalte, ist Juls Behandlung als Bruder. Irgendwelche Einwände?«
Zwanzig Köpfe wurden geschüttelt.
»Bei den Änderungen will ich eure Meinung nicht außer Acht lassen. Ich werde meine Vorschläge schriftlich zusammenfassen. Sollte die Mehrheit von euch gegen die Neuerungen sein, werde ich euch meinen Willen nicht aufzwingen.«
Eine Welle der Erleichterung schwappte ihr entgegen. Die Macht ließ sie die Gefühle der Brüder wie ein Hintergrundrauschen wahrnehmen.
Narcissus räusperte sich. »Das bedeutet de facto, dass wir die gleichen Rechte haben wie du?«
Eva nickte.
»Und wir Brüder sind gleichgestellt?«
Noch einmal nickte sie. Narcissus wirkte zufrieden.
»Und was ist mit deinen Freundinnen?«, verlangte Lukas zu wissen. »Sollen sie von der Ewigen Jugend profitieren? Ohne Mitglieder von Adolescentia Aeterna zu sein?«
Eva zuckte mit den Schultern. »Für mich sind sie das. Diese Frauen sind meine Familie.«
»Das bedeutet, dass die Freundinnen von Julian UND Aleksander Teil der Bruderschaft sind«, fuhr Lukas fort.
»Wenn man es so sehen will«, bestätigte Eva.
»Dann kann man nicht von Gleichberechtigung sprechen.«
Sie seufzte. »Was ist dein Problem? Hast du vielleicht eine Freundin, die ebenfalls aufgenommen werden soll?«
Lukas biss sich auf die Unterlippe. »Katherina hat sich als sehr … engagiert erwiesen.«
»Du bist tatsächlich verliebt? In eine Frau namens Katherina?« Eva grinste, doch das Lachen verging ihr sofort wieder. »Moment mal. Doch nicht Katherina Schönberg, meine Chefin?«
»Hast du etwa ein Problem damit?«, gab Lukas ihre Frage zurück.
Feliz Navidad verklang, aber kein neues Lied startete. Mimi, die den DJ machte, interessierte es offensichtlich nicht.
»Ich weiß nicht«, murmelte Eva. Linus war eine Beziehung mit seiner 67-jährigen Nachbarin eingegangen. Die beiden waren glücklich, obwohl sie Vorurteilen aufgrund ihres scheinbaren Altersunterschiedes ausgesetzt waren. Eva wünschte jedem einzelnen Bruder das Glück, eine Seelenverwandte zu finden. Aber musste es bei Lukas unbedingt ihre Chefin sein?
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