»Dann werde ich damit leben müssen.«
»Du hast keine andere Wahl.« Eva war sich nicht sicher, ob er ernsthaft darüber enttäuscht war. Sie wurde einfach nicht schlau aus Anun. Sie spürte, wie Jul erneut nach ihrer Hand griff. Diesmal ließ sie es zu. »Lassen wir das mit meinen Brüdern. Wir müssen versuchen, herauszufinden, welche Auswirkungen meine Übernahme der Führung auf Adolescentia Aeterna haben könnte. Ich habe Bedenken, dass mein Blut die Schwierigkeiten nicht langfristig lösen wird.«
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Jul. »Auch die anderen Brüder fühlen die Macht durch dein Blut stärker als zuvor.«
Eva strich über Juls Wange. »Ich würde das gerne genauso sehen. Aber die Regeln von Adolescentia Aeterna sehen eine Frau als Älteste nicht vor. Sie verweigern Frauen sogar die Mitgliedschaft. All die strikten Vorschriften haben vielleicht ihre Gründe.«
»Die Ewige Jugend darf sich vor den evolutionsbedingt notwendigen Anpassungen nicht verschließen.« Anun griff nach einem Keks.
Evas Augen wurden schmal. »Und das ausgerechnet aus deinem Mund! – Hast du dich bei deinen Freunden nach dem Verbleib der Prophezeiung erkundigt? Vielleicht hat mit ihr das Rätselraten ein Ende.«
»Man hat sich rund um den Globus auf die Suche nach den Aufzeichnungen gemacht. Ich schätze, dass wir bald erste Antworten erhalten werden.«
»Ich will nicht wissen, wo sich das Ding befindet. Ich will den Text lesen.« Eva seufzte. »Erkläre mir bitte noch einmal ganz genau, wie diese Unterlagen verschwinden konnten. Aus deinen vagen Andeutungen bin ich bislang nicht schlau geworden.«
Anun schlug die Beine übereinander und richtete die Bundfalte seiner Hose. »Die Unterlagen wurden in einer Höhle aufbewahrt. Den genauen Ort kannten nur einer meiner Brüder und ich. Als wir 1460 erfahren haben, dass die Besiedlung dieses Gebietes rasch voranschreitet, habe ich meinen Bruder beauftragt, die Aufzeichnungen in Sicherheit zu bringen. Er ist von seiner Reise nicht wiedergekehrt.«
»Und das war’s? Die Prophezeiung, der du dein Leben gewidmet hast, ist futsch, und du forschst nicht weiter nach?«
Der Blick ihres Vaters durchbohrte Eva. »Ich habe Jahrhunderte mit der Suche nach Jusuf und den Aufzeichnungen verbracht. Ich habe damals nicht nur wertvolles Papier, sondern auch einen Freund verloren.«
Eva wusste nicht, ob sie Mitleid mit ihm haben sollte. »Wo war Jusufs letzter Aufenthaltsort?«
»Seine Spur führte nach Afrika. Ich habe die Unterkunft gefunden, in der er die Nacht verbracht hat, nachdem ich zuletzt von ihm gehört hatte. In der Gegend existiert die Legende, dass sich ein weiser Mann mit dem Wissen von Jahrtausenden auf der Durchreise befunden hat. Er soll Kranke geheilt und Notleidenden geholfen haben. Vielleicht hat Jusuf auf diese Art versucht, eine Spur zu hinterlassen.«
Ein Bruder, der die Möglichkeiten der Macht genutzt hat, um anderen zu helfen? Dieser Mann war ihr sympathisch. »Du meinst, er hat Brotkrumen zu seinem Versteck gestreut?«
»Das ist meine Vermutung. Ich habe versucht, geheime Hinweise in den Geschichten zu finden. Bislang ohne Erfolg.«
»Bei der Lösung dieses Rätsels möchte ich dir helfen«, verkündete Eva. »Kannst du mir zeigen, was du gesammelt hast?«
Ihr Dad nickte.
»Wann?«
»Wir könnten uns nach den Feiertagen zusammensetzen -«
»Die Zeit verrinnt. Ich verstehe nicht, warum wir sie verschwenden sollten.«
»Du benimmst dich nicht, wie es der Ersten der Bruderschaft zusteht.«
Eva starrte ihren Vater an. »Ich habe diese Position nicht haben wollen. Nur weil du zufällig der Mann bist, der meine Mutter geschwängert hat, wurde ich in dieses Spielchen hineingezogen. Ich habe dir gesagt, dass ich keine Ahnung habe, was von mir erwartet wird. Ich mache das alles nur für Jul.«
Die Luft war aufgeladen mit Emotionen. Eva selbst empfand nur Wut. Ihr Dad strömte stoische Ruhe aber auch Verärgerung aufgrund ihrer Ungeduld aus. Jul machte sich Vorwürfe, fühlte sich schlecht, weil sie so unglücklich zu sein schien. Dabei würde sie alles noch einmal so machen, wenn er nur bei ihr bliebe.
All diese Gefühle wurden von der Macht in Eva angesaugt wie ein Magnet. Sie war diesen Emotionen hilflos ausgeliefert. Nur langsam lernte sie, diesen Rausch zu kontrollieren.
Eva schüttelte den Kopf. An Weihnachten stritt man nicht. Niemand konnte sagen, wie oft sie den Weihnachtsabend noch mit Jul verbringen durfte. Die Erinnerung an ihr erstes gemeinsames Weihnachten sollte nicht von Unstimmigkeiten getrübt werden. Aber nach der überraschenden Erkenntnis, dass ihr Vater am Leben war, wollte sie ihre Familie dabeihaben. »Verschieben wir das auf ein andermal.«
»Gute Idee«, meinte Jul, dessen Anspannung sichtbar nachließ. »Sei brav und folge der Bitte deines Daddys. Schau dir deine Geschenke an.«
Das Aufblitzen von Schalk in seinen Augen brachte ihr Herz zum Klopfen. Sie trug die Verantwortung für seine Genesung. Keine Aufregungen mehr. »Mit welchem soll ich anfangen?«
»Beginn mit dem Kleinsten«, meinte er mit einem Lachen in der Stimme.
Eva ging zum Christbaum, unter dem drei Päckchen lagen. Das Kleinste also. Die Schachtel war groß genug für ein Schmuckstück, eine Kette … oder vielleicht einen Ring. Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen. Sie ließ sich Zeit mit dem Öffnen. Ihr Blick wanderte von dem Geschenk in ihrer Hand zu Jul. Wann würde er sie fragen? Bevor sie den Deckel anhob oder danach?
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, damit er sich nur noch hinknien musste. Er sollte sich in seinem geschwächten Zustand nicht anstrengen müssen. Dann klappte sie die Schachtel auf.
Kein Ring.
Stattdessen eine Goldkette samt Anhänger. Das Muster sah aus wie verknotete Seile. Offensichtlich ein sehr altes Schmuckstück. Vielleicht gotisch oder … Ach, wem machte sie etwas vor? Sie hatte keine Ahnung von Kunst, wusste nur, dass der Anblick ihr Herz berührte. Stellte der Anhänger einen unendlichen Knoten dar, der für seine nie endende Liebe stehen sollte? Dieses Geschenk hatte unzweifelhaft einen vielfach höheren symbolischen als materiellen Wert. Die Enttäuschung darüber, dass das Geschenk nichts mit einem Heiratsantrag zu tun hatte, verschwand. »Es ist wunderschön.«
»Es handelt sich um einen Anhänger meiner Mutter, den einzigen Schmuck, den mein Vater ihr geschenkt hat. Ich habe ihn vergolden lassen.«
»O Jul! Ich weiß nicht, ob ich …«
»Keine außer dir. Ich habe eigens für dich einen zusätzlichen Teil anfertigen lassen.«
Eva schob den Knoten zur Seite. Darunter eine einfache, ovale Goldplatte. Das ganze Schmuckstück hatte ungefähr die Größe einer Streichholzschachtel.
»Dreh den Anhänger um.«
Sie folgte seiner Aufforderung und entdeckte auf der Rückseite der Platte eine dünne, sanft geschwungene Inschrift:
»Ich will’s dem blauen Himmel sagen,
Ich will’s der dunklen Nacht vertrau’n,
Ich will’s als frohe Botschaft tragen,
Auf Bergeshöh’n, durch Heid und Au’n.
Die ganze Welt soll Zeuge sein:
Ja, du bist mein!
Und ewig mein!«
In Evas Augen brannten Tränen der Freude und der Rührung. Ein persönlicheres Geschenk hätte Jul ihr nicht machen können.
»Als ich das erste Mal diese Worte von Hoffmann von Fallersleben gelesen habe, hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich jemals so für eine Frau empfinden würde.«
Der Schwur auf dem Schmuckstück war genauso gut wie ein Gelübde vor dem Standesbeamten. Eva setzte sich auf Juls Schoß und legte ihm die Arme um den Hals. »Vielen Dank.«
Juls Lachen klang heiser. Als sich ein leiser Schmerzenslaut daruntermischte, rückte Eva von ihm ab. »Du hättest mich beinahe erdrückt«, beschwerte er sich.
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