„Seit dem ersten Tag gab ich ihnen zu verstehen, dass der Mann, der es wagen würde, sich an deiner blassgesichtigen Frau zu vergreifen, wie ein räudiger Hund sterben würde – mit einem Messer an seiner Kehle.“
„Jenem Bartlosen, der Jim genannt wird, traue ich nicht“, warnte Keyaschante. „Ich sehe das wachsende Verlangen in seinen Augen, wenn er Tscheyesa-win beobachtet, und das gefällt mir nicht. Mir liegt ihre Sicherheit sehr am Herzen. Er mag vielleicht dein guter Freund sein, aber das Verlangen nach einer Frau kann einen Mann verrückt machen.“
Dürrer-Vogel antwortete nicht, sondern stand auf und ging. Kurz nachdem er sein Nachtlager auf der anderen Seite des Feuers errichtet hatte, schaute er Keyaschante noch einmal an. Durch Zeichensprache gab er zu verstehen, dass er Jim im Auge behalten würde.
Keyaschante wusste, dass Dürrer-Vogel mit aufrechter Zunge gesprochen hatte, und als er sich auf den Boden legte, stellte er erschöpft fest, wie gut dies seinem schmerzenden Körper tat. Trotz seiner Müdigkeit konnte er lange nicht einschlafen. Zu viele Dinge spukten in seinem Kopf herum und er musste langsam Pläne machen, wie er nach seiner Freilassung zum Lager zurückgelangen konnte.
KEIN ENTKOMMEN
Mit dem Instinkt eines Tieres fühlte Keyaschante, dass etwas nicht in Ordnung war. Die inneren Augen des Kämpfers waren darauf ausgerichtet, drohende Gefahren zu erkennen, und die leichteste Bewegung in Tscheyesa-wins Nähe reichte aus, um ihn erstarren zu lassen. Jemand hatte vor, seine Braut zu belästigen, und das musste verhindert werden. Mit einem plötzlichen und kraftvollen Satz warf er sich auf den Schatten des Eindringlings. Mit seinen Beinen umklammerte er dessen Taille und seine kraftvollen Finger umfassten dessen Nacken. Ein schneller Ruck und sein Gegner lag leblos in seinen Armen. Das Genick war gebrochen, so schnell, dass er nicht einmal die Gelegenheit hatte, zu schreien.
Keyaschante hob Tscheyesa-win hoch und überlegte sich fieberhaft einen Plan zur Flucht. Jetzt hatte er keine Wahl mehr und ihm blieb nichts anderes übrig, als blitzschnell zu handeln.
Zwei der weißen Männer lagen noch immer schlafend am Boden, aber von Dürrer-Vogel fehlte jede Spur, demnach musste der Mann, den er gerade getötet hatte, einer der Weißen gewesen sein.
„Leise!“, flüsterte Keyaschante.
Er ließ Tscheyesa-win sanft herunter, so dass sie laufen konnte. „Wegen Dürrer-Vogel können wir es nicht riskieren, unsere Pferde zu holen. Also folge mir!“
Er nahm Tscheyesa-wins Hand und führte sie lautlos im Schutz des Waldes nach Norden. Im Osten erwachte bereits die Morgendämmerung, aber es war noch nicht hell genug, um die vielen Zweige und Dornen des Unterholzes zu erkennen. Tscheyesawin bemühte sich, den großen Schritten ihres Mannes folgen zu können. Sie rannten fast durch das Gewirr des Unterholzes und Tscheyesa-win biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen aufzustöhnen. Als sie an einem besonders dichten Gestrüpp ankamen, bedeutete Keyaschante ihr, sich an der dichtesten Stelle zu verstecken und sich ruhig zu verhalten.
„Ich werde bald zurück sein!“, flüsterte er. „Ich muss die Pferde holen oder sie zumindest losbinden. Wir haben keine Chance zu entkommen, wenn sie die Pferde haben.“
Der Knall eines Schusses in der Ferne veranlasste Keyaschante, wieder in das Gestrüpp neben Tscheyesa-win zu klettern. Die dichten und verkrümmten Zweige der Pflaumenbäume boten ihnen dabei ein ideales Versteck.
Es wäre wahrscheinlich nicht sonderlich schwierig gewesen, die Begegnung mit den weißen Männern in diesem Dickicht zu vermeiden, aber Dürrer-Vogel war eine andere Sorte von Gegner und durfte nicht unterschätzt werden.
Würde er sich an der Suche beteiligen? Und wie gut war er im Spuren lesen? Das Paar entschied sich, seine Flucht fortzusetzen und den Abstand zwischen ihren Verfolgern zu vergrößern.
Sie rannten in Höchstgeschwindigkeit durch das Unterholz, gehetzt wie wilde Tiere, bis Tscheyesa-win plötzlich unter den hängenden Zweigen einer großen Kiefer zusammenbrach und sich hundeelend fühlte. Sie rollte sich zur Seite und übergab sich so heftig, dass nichts mehr in ihrem Magen blieb. Doch das Würgen hörte nicht auf und der unkontrollierbare Brechreiz saugte ihr noch das letzte bisschen Kraft aus dem Körper.
Keyaschante hockte sich besorgt neben sie und brachte ihr in einem Fetzen seines Lendenschurzes etwas Wasser. Durch die reine, süße Flüssigkeit fühlte sich Tscheyesa-win etwas besser, doch ihre Beine waren wie taub und sie konnte sich nicht bewegen.
„Wir sollten uns hier bis zum Sonnenuntergang ausruhen, dann müssen wir zu einer geschützten Stelle gehen; und zwar dahin, wo ich das Wasser geholt habe“, versuchte Keyaschante seine Frau zu ermutigen.
Im Moment sah es jedoch so aus, als ob Tscheyesa-win alles egal wäre, noch nicht einmal der Gedanke an ihre mögliche Gefangennahme konnte sie beunruhigen. Das Einzige was sie interessierte, war, ihrem geschundenen Körper etwas Ruhe zu gönnen, selbst wenn dies ihren Tod bedeuten würde.
„Ruhe dich aus, ich werde vorsichtig die Gegend erkunden und nach einen Unterschlupf suchen!“, flüsterte Keyaschante beruhigend.
Stunden später kehrte er zurück und hob das völlig erschöpfte Mädchen vom Boden auf.
Tscheyesa-win schlang instinktiv ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihre Beine und sie stöhnte darüber, dass man sie aufgeweckt hatte. Ihre sichtliche Pein schockierte Keyaschante und wie um sich zu verteidigen, rief er: „Es tut mir leid, aber wir müssen gehen. Wir müssen zu einem sicheren Ort gehen, wo es auch Wasser gibt. Es wird alles noch viel schlimmer, wenn wir uns nicht in Sicherheit bringen.“
Tscheyesa-win fühlte jede seiner Bewegungen in ihrem ausge laugten Körper, und es schien ihr wie eine Ewigkeit, ehe sie das beruhigende Geräusch des Wassers hörte, das sich murmelnd in ein kleines Tal ergoss.
Keyaschante legte sie sanft auf das grasbewachsene Ufer des Flusses und vergewisserte sich, dass ihre schmerzenden Beine in das kühlende Wasser des Flusses eingetaucht waren. Tscheyesa-win konnte fühlen, wie sich ihre übermüdeten Muskeln entspannten und wie der Wille zum Überleben wieder in ihren Körper zurückkehrte.
„Beweg dich nicht!“, warnte Keyaschante. Ich werde etwas zum Essen finden und bald zurückkehren!“ Flink lief er den kleinen Hügel hinauf und verschwand aus ihren Augen.
Sie lag da und starrte auf den Hang, ihre Hände umklammerten das lange Gras, das über ihre Beine strich. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, aber immer wenn sie an ihre Flucht aus der Gewalt der weißen Männer dachte, rann ihr ein Schauer über den Rücken. Das überwältigende Gefühl von Stolz und Trotz stieg in ihr auf, und sie wusste, dass sie ein Recht auf diese Gefühle hatte. Hatte sie ihrem Ehemann und den anderen nicht bewiesen, dass sie stark war und eine derartige Mühsal auf sich nehmen konnte? Sie fühlte sich wesentlich besser und fiel in einem tiefen Schlaf der völligen Erschöpfung.
Über das Land brach längst die Dämmerung herein, als Keyaschante ein erlegtes Kaninchen säuberte. Das plötzliche Geräusch eines brechenden Zweiges ließ ihn aufschrecken. Er wirbelte herum und sah einen Schatten, der sich viel zu schnell auf ihn fallen ließ. Er hörte ein lautes Krachen und warf sich mit dem Gesicht auf den Boden. Er presste seine Nase so fest auf die Erde, dass er kaum noch atmen konnte. Seine schnelle Reaktion bewahrte ihn vor der ganzen Wucht des Schlages, sodass er nur halb betäubt am Boden lag.
Durch den Nebel seiner drohenden Bewusstlosigkeit drang die flehende Stimme Tscheyesa-wins, und er konnte die bekannten Stimmen der beiden weißen Männer hören, als sie wütend vor sich hin fluchten. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht bewegen, und langsam senkte sich der Schleier des Vergessens über ihn, bis er schließlich nichts mehr hörte und sah.
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