An ein Gewehr hatte Dave nicht gedacht. Der Grund dafür leuchtete ihm ein. Bei einer Schießerei mit räuberischen Indianern war jede Waffe wichtig. Der Einzelne half so mit, das Leben der ganzen Gruppe zu sichern.
Als Dave nun heimwärts lief, überlegte er krampfhaft, woher er auf die Schnelle ein Gewehr nehmen sollte. Mr Blackmore hatte eine Büchse besessen, sie hing noch immer in der Küche am Haken. Aber es war nicht Daves Büchse. Wenn er sie einfach nahm, war das schlichtweg Diebstahl.
Dave besaß noch elf Dollar und fünfzehn Cent. Das Geld war in seiner Hütte in einem Topf über dem Herd verwahrt. Er holte es und ging damit zu Hawken‘s Laden, an dessen Scheiben er sich als Kind die Nase platt gedrückt hatte. Jake Hawken arbeitete jetzt mit seinem Bruder Samuel zusammen. Sie fertigten die besten Gewehre weit und breit. Ihre Kunden nahmen oft Tausende von Meilen in Kauf, um sich bei den Brüdern ein Gewehr zu bestellen. Ihr Geschäft blühte. Doch als Dave die elf Dollar auf den Ladentisch zählte, hob Jake Hawken nur mitleidig die Schulter. „Sie bekommen dafür
etwas Blei und zwei Pfund Pulver, aber keine Büchse.”
„Es muss keine neue sein”, versuchte es Dave.
„Tut mir leid”, meinte der Büchsenmacher ehrlich. „Gebrauchte Waffen habe ich momentan nicht im Laden. Vielleicht nächste Woche.”
Dave seufzte, als er die Tür hinter sich schloss. Mit einem Mal sah er seinen Traum entschweben. Diesen Traum, der ihm das Leben bedeutet hatte und der nur wegen eines simplen Gewehrs im Nichts verschwand.
Und doch war sein Traum greifbar nah. Er hing an einem Haken in Blackmores Wohnküche. Dave nahm das Gewehr herunter und sah es traurig an. Der Lauf war unverziert, und der jahrelange Gebrauch hatte feine Schrammen auf dem Ahornschaft hinterlassen. Es war ein sechziger Kaliber mit hoher Präzision, nicht besonders elegant, aber es war für ihn momentan das einzige Gewehr der Welt.
Ein hölzernes Kistchen hinter der Eckbank bewahrte die passenden Kugeln auf, etwa zwei Pfund Blei in Masse, zwei Pfund Pulver,
Feuersteine und eine Kugelzange. Der Inhalt dieses Kistchens und das Gewehr waren für Dave ein Schatz, der an diesem Tag wertvoller war als aller Reichtum. Und doch war er unerreichbar. Diese Sachen hatten Mr Blackmore gehört. Wenn sie jetzt jemandem gehörten, dann Cuthbert, dem einzigen Erben. Und selbst wenn Cuthbert nie zurückkäme, diese Sachen würden niemals Dave gehören.
Die Ausweglosigkeit ließ ihn verzweifeln. Die Stunden rannen dahin, während er in der Küche saß, die Büchse anstarrte und hoffte, es würde sich eine Lösung zeigen. Aber es fand sich keine Lösung.
Die einbrechende Nacht und der Zwang zum Handeln verleiteten ihn zu einem Weg, den er sonst nicht gewählt hätte. Er brauchte das Gewehr nur zu nehmen. Cuthbert hatte sich nie dafür interessiert, und einem anderen, zum Beispiel Marcell, würde der leere Haken nicht weiter auffallen. Zum ersten Mal verstand Dave, warum
Menschen aus Verzweiflung raubten oder betrogen.
Vermutlich würde niemand den Diebstahl bemerken, vermutlich würde Dave nie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und dennoch zögerte er. Er musste sein Tun vor sich selbst und dereinst vor seinem Schöpfer verantworten. Das belastete ihn schwer. Erst als der Morgen dämmerte, rang er sich durch. Er schlüpfte in seine Schafwolljacke, zog sich die Mütze tief über die Ohren, schulterte dann das Gewehr, nahm das Kistchen unter den Arm und verließ das Haus. Er schloss es ab und legte den Schlüssel vor Marcells Tür. Dave verabschiedete sich nicht, denn es gab niemanden, der ihn vermissen würde. Nur einmal schaute er kurz zurück. Im Halbdunkel erkannte er eine Gestalt. Es war der alte Medizinmann, der die verkrüppelte Hand zitternd zum Abschied und wohl auch zum stillen Dank erhob. Niemand sonst bemerkte Dave, der an diesem kühlen Samstagmorgen des 2. April 1831 die Stadt hinter sich ließ. Wie ein Dieb schlich er sich davon.
Nur die Erinnerung an ungeliebte Zeiten trug er mit sich – und die Hoffnung auf ein besseres, ein erfüllteres und toleranteres Leben.
Die Mandanen
Als die siebzehn Männer die Boote lautlos vom Pier stießen, spitzte die Sonne rot-golden hinter dem Horizont hervor. Dave sah seine Geburtsstadt langsam in der Ferne verschwinden. Schließlich ragte nur noch der Glockenturm der St. Michaels Kirche hervor. Aus der Entfernung wirkte er wie ein mahnender Zeigefinger. Dann versank auch er hinter einem Hügel. Dave nahm es ohne Wehmut und ohne Reue hin. Er richtete seinen Blick geradewegs nach vorn, nach Westen, dorthin, wo sich das gelb-braune Band des Missouri in der
Unendlichkeit verlor. Er spürte das Boot unter seinen Füßen, das sanft in der Strömung schwang, er spürte leichten Wind aufkommen, und er lernte dieses Gefühl lieben, das ihn in eine neue, eine freie Welt begleiten sollte.
Dave fand sich rasch in den Rhythmus ein, dem die Arbeit den Takt verlieh. Die Boote wurden von je sechs Männern gerudert, einer stand jeweils am Heck und half mit einem langen Staken, das Boot gegen die Strömung zu manövrieren. Es war harte Arbeit, die den Männern all ihre Kraft abverlangte. Da drei übrig waren, wurde stündlich abgewechselt. So fand jeder etwas Zeit, sich von den
Strapazen auszuruhen.
Die Männer lernte Dave schnell näher kennen. Bell und Reed hatte
er schon vorher gekannt, von den anderen waren ihm nur die Namen geläufig. Das anstrengende Leben hatte sie rau und grob gemacht, trotz allem waren es gute Kerle, die den Humor nicht verloren hatten und nichts mehr liebten, als herzhaft zu essen und zu lachen. Dave mochte sie. Mit dem schweigsamen Sven, der nur „der Schwede” genannt wurde, kam er ebenso gut aus wie mit dessen Pendant, dem Plappermaul Paul Jackly, oder mit dem Méti Durak, der schon fast sechzig war, in Kraft und Ausdauer den anderen aber nicht nachstand. Nur einen Mann mochte Dave von Anfang an nicht. Das war der Virginier Graham Booker. Er tat seine Arbeit wie jeder andere, versuchte nicht, sich vor etwas zu drücken, und fiel auch nicht
lästernd über irgendjemanden her. Träfe nur einer dieser Punkte zu, wäre er sowieso untauglich für eine Gemeinschaft wie diese gewesen. Bell hätte ihn dann erst gar nicht angenommen. Nein, es war etwas anderes, das Dave an ihm störte. Was genau und warum das so war, wusste er nicht. Es war mehr ein Gefühl, eine Ahnung.
So wie Dave die Männer näher kennenlernte, so lernten sie auch ihn kennen. Schon sehr bald wurde er als gleichwertiges Mitglied aufgenommen. Niemand versuchte, ihn herumzukommandieren oder ihm mit Sticheleien das Leben unnötig schwerzumachen, wie es bei Neuen hin und wieder gehandhabt wird.
Henry Long Reed wies Dave freundschaftlich in seine Aufgaben ein. Ihm war kein besonderer Posten zugedacht, er war einer von ihnen und hatte die gleichen Arbeiten zu erledigen wie alle. Während des Tages bestand ihre Tätigkeit hauptsächlich aus Rudern; des Nachts richtete man gemeinsam das Lager, sammelte Holz, falls welches zur Verfügung stan;, wenn nicht, suchte man in der Prärie nach trockenem Bisondung. Nur beim Kochen und beim Wacheschieben wechselte man sich ab.
Captain Orlando Bell, das riesige Halbblut, teilte die Männer ein. Mit eiserner Härte sorgt er für Disziplin. Aber er war stets bemüht,
gerecht zu sein. Auch gab es selten Grund, dass er seine Führungsstellung hätte lautstark durchsetzen müssen.
An diesem ersten Tag ihrer Reise legten sie eine Strecke von fünfzehn Meilen zurück. Der Fluss war ruhig gewesen und hatte ihnen keine Schwierigkeiten bereitet. Am Abend saßen sie am Feuer und brieten sich Fische, die Reed während der Fahrt geangelt hatte. Sich nebenbei mit Frischkost zu versorgen, war durchaus üblich. So wurde der Proviant geschont und diente als Reserve für Notlagen, in denen es ihnen nicht möglich war, Wild oder Fische zu erbeuten.
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