"Eine nicht unbedingt logische Folgerung. Außerdem herrscht bei Weitem nicht überall Frieden. Du bist und bleibst einfach ein unverbesserlicher Schwarzseher."
"Nur Realist", korrigierte Maziroc schmunzelnd. "Und manchmal sogar Optimist, weil Glaube bekanntlich Berge versetzen kann. Etwas Vergleichbares ist mir gerade gelungen. Ich habe es endlich geschafft, zwei Skiils gleichzeitig auf mich abzustimmen."
"Du hast ..." Charalon brach ab, starrte Maziroc ein paar Sekunden lang ungläubig an, dann lachte er kopfschüttelnd und schlug ihm ein paarmal kräftig auf die Schulter. "Maziroc, mein Freund, du bist unglaublich. Ich war fest davon überzeugt, dass du nur einem Phantom nachjagen würdest. Was du geschafft hast, ist selbst mir noch nie gelungen. Allmählich machen deine magischen Fähigkeiten sogar mir fast schon Angst."
"Das sollten sie auch, denn du hast mir alles beigebracht, was du weißt, aber ich habe noch eine Menge dazugelernt, wovon du nicht einmal etwas ahnst", behauptete Maziroc scherzend. Lächelnd fügte er hinzu: "Außerdem habe ich einen großen Vorteil auf meiner Seite. Ich lebe allein und kann mich meinen Experimenten beliebig lange und intensiv hingeben, während du den Großteil deiner freien Zeit deiner Frau widmest."
"Aus deren Liebe ich aber wiederum mehr Kraft schöpfen kann, als du auch nur für möglich halten würdest", konterte Charalon.
Seine Worte waren wie dieses ganze Gespräch nur scherzhaft gemeint, dennoch schmerzte die Bemerkung Maziroc, obwohl er sie sogar selbst aus Unachtsamkeit provoziert hatte. Vor vielen Jahren hatte auch er einst von ganzem Herzen geliebt. Cyra, seine Angebetete, war eine Prinzessin am Kaiserhof von Aslan gewesen. Auch sie hatte ihn geliebt, und die Verbindung hatte den Segen ihres Vaters erhalten. Bevor sie jedoch hatten heiraten können, hatte es in Aslan einen Umsturzversuch gegeben, während Maziroc in Cavillon geweilt hatte. Zwar war der Aufstand niedergeschlagen worden, doch in den Wirren der Revolte war Cyra von einem unbekannt gebliebenen Attentäter erdolcht worden. Ihr Tod hatte Maziroc das Herz gebrochen. Aus immer noch andauernder Liebe zu Cyra und um ihr Andenken zu ehren, hatte er den Frauen und der Liebe seither entsagt.
Charalon hingegen war seit vielen Jahrzehnten glücklich verheiratet, auch wenn die Ehe zu seinem größten Bedauern kinderlos geblieben war. Sicherlich hatte er mit seiner Bemerkung keine alten Wunden neu aufreißen wollen, und Maziroc bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, welchen Stich sie ihm versetzt hatten.
"Dann vergiss dabei vor allem aber eines nicht", setzte er die Flachserei fort. "Ich bin noch halbwegs jung, während du deine beste Zeit längst schon hinter dir hast, alter Mann. Schon allein deshalb werde ich dich irgendwann einholen und deine Fähigkeiten noch übertreffen."
"Ach ja? Wir können ja demnächst wieder einen kleinen Wettkampf veranstalten, dann wird der alte Mann dir mal zeigen, wozu er noch immer imstande ist. Und statt herumzuprahlen, erzähl mir lieber, um was für Skiils es sich gehandelt hat."
"Ein Ring, mit dem man in die Ferne schauen kann, und ein Medaillon, das die Gesundheit stärkt", berichtete Maziroc. "Ein recht leichtes und ein mittelschweres also. Der Trick war, erst die beiden Skiils miteinander in Einklang zu bringen, was das Schwerste war. Anschließend konnte ich sie mir beide zugleich anpassen."
Ein heller Fanfarenstoß von einem der Türme beendete ihr Gespräch, als die Elben durch das weit geöffnete Tor ritten. Sie bildeten ein beidseitiges Spalier, durch das Eibon herankam. Unmittelbar vor Charalon und Maziroc zügelte er sein Pferd und stieg ab. Wie alle Elben sah er trotz seines extrem hohen Alters immer noch jung, fast jugendlich aus, und auch sein Haar war immer noch voll und strahlend weiß. Lediglich ein Blick in seine grünen Augen, in denen ein ungeheuerer Schatz an Wissen und Lebenserfahrung geschrieben stand, vermochte einem aufmerksamen Beobachter eine Ahnung davon zu vermitteln, wie alt der Elbenkönig in Wahrheit war.
"Ich grüße Euch, Eibon Bel Churio. Seid uns in Cavillon herzlich willkommen", begrüßte Charalon ihn und deutete eine Verbeugung an.
"Gruß auch Euch, Charalon, Oberhaupt des Ordens der Magier. Wir nehmen Eure Gastfreundschaft mit Freude und Dankbarkeit an", erwiderte Eibon den rituellen Gruß. Gleich darauf umarmten sich die beiden Männer freundschaftlich.
"Du warst schon lange nicht mehr hier", stellte Charalon fest, nun sämtliche Formalitäten bei der Anrede fallen lassend.
"Ich habe die Hohe Festung überhaupt schon lange nicht mehr verlassen", erklärte der König der Elben. "Allmählich macht mir das Alter doch immer stärker zu schaffen. Meine Gesundheit ist längst schon nicht mehr die beste, und dies wird mit Sicherheit mein letzter Besuch hier sein. Ich werde sterben, mein Freund, schon bald. Aber vorher wollte ich Cavillon noch einmal sehen."
"Du übertreibst wie üblich", widersprach Charalon. "Ich bin fest davon überzeugt, dass du noch viele Jahre vor dir hast."
"Nein, nein, diesmal nicht", erklärte Eibon. "Machen wir uns nichts vor. Aber ich habe ein langes und erfülltes Leben gehabt, dazu noch ereignisreicher als das vieler anderer, sodass mich der Gedanke an den Tod nicht schreckt. Es gibt wesentlich Schlimmeres, und das ist der zweite, der Hauptgrund, aus dem ich persönlich hergekommen bin."
"Wir dachten uns bereits, dass Ihr schlechte Nachrichten bringt", mischte sich Maziroc ein, obwohl er sich in diesem Punkt gerne geirrt hätte. "Allerdings ist ..."
Er wurde unterbrochen, als sich von hinten eine Frau mit langen, dunklen Haaren zwischen ihm und Charalon hindurch zwängte. "Der Bund der Vingala möchte Euch ebenfalls in Cavillon willkommen heißen", wandte sich Shalana, die Sprecherin der Hexen, an den Elbenkönig. Mit ihrer schlanken Figur und ihrem liebreizenden Gesicht hätte sie eine wunderschöne Frau sein können, wenn sich nicht ein ständiges Misstrauen und eine Streitlust in ihre Züge gegraben hätten, die sie bereits frühzeitig verhärmt aussehen ließen. "Außerdem verlangen die Vingala, an allen wichtigen Besprechungen teilnehmen zu können."
"Auch Eure Gastfreundschaft nehmen wir mit Freude und Dankbarkeit an", erwiderte Eibon. Wenn ihn das Verhalten der Hexe verwunderte, so zeigte er es zumindest nicht. "Und wir hegen keinerlei Wunsch, Euch in irgendeiner Form auszugrenzen. Was wir zu besprechen haben, betrifft jeden, nicht nur hier in Cavillon, sondern möglicherweise in ganz Arcana." Er wandte sich wieder an Charalon. "Deshalb möchte ich dich bitten, möglichst schnell eine Versammlung einzuberufen. Ich bringe wichtige Kunde."
"So soll es geschehen", erklärte Charalon mit einem Nicken. "Man wird dir und deinen Begleitern eure Quartiere zeigen, damit ihr euch frisch machen und kurz erholen könnt, und in einer Stunde treffen wir uns alle im großen Sitzungssaal."
*
Gespanntes Schweigen erfüllte den riesigen Saal mit dem gläsernen, von marmornen Pfeilern gestützten Kuppeldach, durch das helles Sonnenlicht hereinfiel. Mehr als achtzig Magier und rund dreißig Hexen hatten sich an einem langen, ovalen Tisch versammelt, und die meisten hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt. Widerwillig hatte auch Maziroc sein mit zahlreichen Bordüren und sonstigen Verzierungen besetztes Festgewand angelegt, obwohl er es nur äußerst ungern trug. Er war kein großer Freund von Pomp und förmlicher Etikette, außerdem spannte das Gewand mittlerweile ziemlich an den Hüften. Es lag Jahre zurück, dass er es zuletzt getragen hatte, und obwohl er es sich nur widerwillig eingestand, war er längst nicht mehr so schlank wie früher, sondern hatte gerade in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
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