So vieles hatte sich verändert in diesem Jahrtausend, und doch war so vieles auch gleich geblieben. Sah man von Charalon und vielleicht noch Kenran'Del ab, so war er der einzige noch lebende Mensch, der Zeuge der damaligen Ereignisse gewesen war. Seine Haare waren mittlerweile schlohweiß geworden, und den Kampf gegen seine damals erst beginnende Dickleibigkeit hatte er längst verloren. Zudem war er weiser und auch etwas ruhiger geworden, weniger impulsiv und sprunghaft als damals, doch ansonsten hatte sich an seiner eigenen Situation nicht viel geändert. Anders als er damals noch geglaubt hatte, war er niemals Oberhaupt des Magierordens geworden, schon deshalb, weil es diesen in seiner ursprünglichen Form seit den damaligen Ereignissen nicht mehr gab. Er war zerfallen, nachdem die Hexen sich abgespalten hatten. Seither gab es den Magierorden der Ishar und den Hexenorden der Vingala, und von gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten einmal abgesehen, kamen sie seither eigentlich besser miteinander aus, als es früher oft der Fall gewesen war.
Mit einem väterlichen Lächeln betrachtete Maziroc die zusammengerollte Gestalt Miranyas. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie eingeschlafen war; im Gegenteil, durch eine sanfte suggestive Beeinflussung im Sprechrhythmus seiner Erzählung hatte er ihre Müdigkeit zusätzlich gefördert. Zu schlafen, so wie die anderen, war das Beste, was sie momentan tun konnte. Auch Maziroc selbst hätte sich gewünscht, der unerbittlichen Realität auf diesem Weg für ein paar Stunden entfliehen zu können, doch er wusste, dass er keine Ruhe finden würde.
So sicher, wie er wusste, dass sie verloren waren.
Er blinzelte ein paarmal und ließ seinen Blick niedergeschlagen über das halbe Dutzend Männer und Frauen schweifen, das mit ihm in der kleinen Felshöhle trügerische Zuflucht gesucht hatte, der traurige Rest einer ursprünglich mehr als dreimal so großen Gruppe. Menschen, die an ihn geglaubt und ihm vertraut hatten, doch er hatte sie geradewegs in den Untergang geführt. Wenn überhaupt, dann blieb ihnen höchstens noch die Wahl zu entscheiden, wie sie sterben wollten, ob durch die Schwerter ihrer Feinde oder durch die unbarmherzige Kälte, die zum Höhleneingang hereindrang, sich durch ihre Kleidung fraß und ihre Glieder zu lähmen begann.
In nicht einmal vierundzwanzig Stunden würde das letzte Jahr des ersten Jahrtausends neuer Zeitrechnung beginnen. Falls nicht wider Erwarten doch noch ein Wunder geschah - und Maziroc hatte schon vor langer Zeit aufgehört, an Wunder zu glauben -, würde es der letzte Jahreswechsel für sie sein, denn keiner von ihnen würde den Beginn des neues Millenniums wohl noch erleben.
Schon seit mehreren Jahren, seit der Sprung ins nächste Jahrtausend in greifbare Nähe gerückt war, begannen die Menschen mehr und mehr verrückt zu spielen. Diffuse Ängste, geschürt durch selbsternannte Propheten und verfälschte Auslegungen alter Prophezeiungen, breiteten sich aus, vergifteten das Denken der allzu Ängstlichen oder Leichtgläubigen und fanden mehr und mehr Anhänger, je näher das neue Millennium rückte. Prediger, die aufgrund völlig an den Haaren herbeigezogener Omen den baldigen Weltuntergang voraussagten, erhielten ebenso rasenden Zuwachs wie die obskursten Sekten.
Eine der dubiosen Säulen ihrer Macht war die mysteriöse Prophezeiung über das Kind zweier Welten, das zu einer Jahrtausendwende geboren werden und Unheil und Verderben über Arcana bringen sollte. Die Prophezeiung war Jahrhunderte alt, und niemand wusste mehr, von wem sie stammte, doch wie so vieles andere ebenfalls war auch sie von den Predigern aus dem Dunkel der Vergangenheit und des Vergessens wieder hervorgezerrt und für ihre eigennützigen Zwecke missbraucht worden.
Vielleicht, dachte Maziroc nicht zum ersten Mal, war es ein Fehler gewesen, den Sieg über die schrecklichste Bedrohung, die Arcana je erlebt hatte, zum Beginn einer neuen Zeitrechnung zu machen. Es hatte ein optimistisches Zeichen für einen Neuanfang sein sollen, doch der ursprünglich freudige Anlass war immer stärker in den Hintergrund gerückt, und geblieben war in erster Linie die Erinnerung an die vorangegangene Gefahr, die Schrecken und Gräuel.
Und wie es aussah, sollten all die selbsternannten Propheten erneut bevorstehenden Unheils, die hauptsächlich auf diesen Zug gesprungen waren, um ihren leichtgläubigen Mitmenschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, mit ihren Mahnungen nun auch noch Recht bekommen, wenn auch in einer Form, wie sie selbst sie mit Sicherheit nicht erwartet hatten.
Nach fast genau einem Jahrtausend war die Finsternis zurückgekehrt, die größte Bedrohung, die es für Arcana je gegeben hatte.
Dies war der Grund für ihn gewesen, diese Expedition allen Risiken zum Trotz zu unternehmen, doch die Gefahr, an der sie nun wohl alle sterben würden, war eine andere. Nicht annähernd so schlimm und sogar noch älter, aber ebenso tödlich. Nicht einmal das gesamte Jahrtausend hatte ausgereicht, die Bedrohung durch die Hornmänner zu beseitigen. Mehr als einmal hatte es Bündnisse und mächtige Kriegszüge gegen sie gegeben, und nicht alle waren erfolglos geblieben. Mehrfach waren ihre Clansburgen erobert, geschleift und bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden, aber gleichgültig, mit welcher Unbarmherzigkeit und Gründlichkeit diese Vernichtungsfeldzüge geführt worden waren, nie war es gelungen, dieses Krebsgeschwür auf Dauer vom Angesicht Arcanas zu tilgen. Wie viele Clans auch zerschlagen worden waren, stets hatte es zumindest einige Überlebende gegeben. Das raue Hügelland von Skant mit seinen tausenden von Verstecken im Herzen der Nordermark hatte es ihnen ermöglicht, aus dem Verborgenen heraus neu aufzurüsten und immer wieder hatten schon bald neue, noch mächtigere Clansburgen irgendwo ihr hässliches Haupt erhoben. Die politische Zerrissenheit der Nordermark, das ständige Misstrauen und die kleingeistigen Kriege der einzelnen Stadtstaaten untereinander hatten einen idealen Nährboden für sie gebildet.
Verbittert schüttelte Maziroc den Kopf. Damals, vor rund tausend Jahren, hatte sich die Kunde vom Erscheinen der Damonen erst verbreitet, als es fast zu spät gewesen war, und selbst dann, als sich das wahre Ausmaß der Bedrohung enthüllt hatte, war es fast unmöglich gewesen, all die einzelnen Städte, Länder und Mächte zu einem Bündnis zu bewegen.
Diesmal war die Warnung - Charalon sei Dank - frühzeitiger erfolgt, doch mit dem Ende dieser Expedition war schon der erste Schritt zum Aufbau einer wirkungsvollen Verteidigung so gut wie gescheitert.
Maziroc verfluchte die Clanskrieger aus tiefstem Herzen. Er hatte die Gefahr eines Ritts direkt durch das Hügelland von Skant gekannt, aber er war dieses Risiko dennoch eingegangen. Die Route durch den Süden, südlich am großen Binnenmeer und anschließend an den Todessümpfen von Miirn vorbei, hätte einen Umweg von mehreren Wochen bedeutet, und jeder Tag war kostbar. Zudem stand nicht einmal fest, ob diese Route wirklich sicherer gewesen wäre. Die Berichte der Späher über die Stärke der Damonenheere und die Geschwindigkeit, mit der sie vordrangen, waren äußerst spärlich und ungenau. Nein, ihm war nichts anderes übrig geblieben, als direkt durch Skant zu reiten, und dieser Plan war gescheitert.
Vor drei Tagen waren sie von einem schwer bewaffneten Trupp Hornmänner entdeckt worden. Dank des selbstlosen Opfers mehrerer seiner Begleiter, die zurückgeblieben waren, um die Clanskrieger aufzuhalten, schien ihnen zunächst die Flucht zu gelingen, doch kaum eine Stunde später hatte sich der Himmel plötzlich rasend schnell verdunkelt, und binnen weniger Minuten war so überraschend und warnungslos, wie es hier in der Nordermark manchmal geschah, das Unwetter hereingebrochen. Zunächst mit Blitz und Donner und Regen, in den sich jedoch schon bald Hagelkörner gemischt hatten, bis er schließlich in einen ausgewachsenen Schneesturm übergegangen war, der bis zur Stunde andauerte. Stundenlang waren sie nahezu blindlings umhergeirrt, ehe sie diese Höhle entdeckt hatten, doch auch sie bot nur schwachen Schutz. Sie besaßen nicht einmal Holz oder sonst etwas Brennbares, um ein wärmendes Feuer zu entfachen, und längst schon hatte die Kälte auch die Höhle erobert.
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