Beispiel 1
F bittet die beiden Polizeibeamten A und B aufgeregt, ihren soeben aus der gemeinsamen Wohnung ausziehenden Freund M daran zu hindern, den ihr gehörenden Kühlschrank ohne ihr Einverständnis mitzunehmen. Neben der Verletzung des Privatrechts kommt ein strafrechtlich relevantes Verhalten, also die Verletzung des öffentlichen Rechts, in Betracht. Die Beamten sind gemäß § 1 Abs. 1 BbgPolG zuständig.
Beispiel 2
L spricht zwei Kollegen von A und B an und bittet sie, seine ebenfalls gerade ausziehende Freundin V daran zu hindern, den Fernseher mitzunehmen. Das sei zwar ihr eigenes Gerät, aber sie habe ihm, dem L, erst gestern versprochen, ihm den Fernseher für ein Jahr unentgeltlich zur Nutzung zu überlassen. Auch hier liegt eine Rechtsverletzung vor, jedoch nicht des öffentlichen Rechts. Denn es liegt lediglich ein Leihvertrag nach § 598 BGB vor, den B offenbar nicht erfüllen möchte. Deswegen ist die Polizei lediglich nach § 1 Abs. 2 BbgPolG zuständig.
Zu den subjektiven Rechten und Rechtsgütern des Einzelnenzählen insbesondere Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Ehre. 23Meist werden sie durch Rechtsverletzungen bedroht bzw. geschädigt. In einem solchen Fall liegt dann aber eine Störung der öffentlichen Sicherheit in Gestalt der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung vor, z. B. drohende Tötung (u. a. § 212 StGB), bevorstehender Diebstahl (§ 242 StGB), andauernde Körperverletzung (u. a. § 223 StGB), unzulässiger Lärm (z. B. §§ 9, 10 LImSchG). Warum zählt man dann aber die subjektiven Rechte zur öffentlichen Sicherheit? Der Grund hierfür liegt darin, dass Individualrechtsgüter wie Leib, Leben oder Freiheit auch durch Ereignisse bedroht oder beschädigt werden können, die nicht mit Rechtsverletzungen einhergehen, nämlich insbesondere durch Naturkatastrophenwie Stürme, Hochwasser oder Lawinen. Ähnlich liegt es in Fällen von Selbstgefährdungoder Selbsttötung. Soweit sie von einem freien Willen getragen sind, können sie als Ausdruck grundrechtlich geschützter Selbstbestimmung keine Gefahr oder Störung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Anders liegt es nur, wenn es an der Freiverantwortlichkeit fehlt oder durch die Selbstgefährdung bzw. den Suizid Dritte in Mitleidenschaft gezogen werden (z. B. Suizid durch Aufdrehen des Gashahns im Mietshaus). 24
Die dritte Fallgruppe der öffentlichen Sicherheit schützt den Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen. Bestand des Staates meint die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit Deutschlands; Einrichtungen des Staates sind insbesondere seine Organe, Behörden, Körperschaften oder Einrichtungen wie Schulen, Museen oder Schwimmbäder; unter Veranstaltungen des Staates versteht man u. a. die staatliche Tätigkeit sowie Staatsempfänge oder Gelöbnisse bzw. Vereidigungen. 25Wiederum ist in diesen Fällen vorrangig die Verletzung der Rechtsordnung zu prüfen. Das zeigt sich anschaulich an der Behinderung polizeilicher Einsätze, die die Polizei mittels eines Platzverweises unterbinden kann (§ 16 BbgPolG). Differenziert zu betrachten ist im Vergleich dazu die Warnung vor polizeilichen Geschwindigkeitskontrollen. 26Zweifelhaft ist vor dem Hintergrund von Art. 5 und Art. 8 GG, ob öffentliche Kritik am Staat seine Einrichtungen oder Veranstaltungen verletzen könnte (z. B. Störung von öffentlichen Gelöbnissen). 27Soweit ein Verstoß gegen Rechtsnormen nicht festgestellt werden kann, ist es in allen diesen Fällen schwierig, eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit zu bejahen. Als Faustregel gilt daher: Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit wegen Beeinträchtigung des Staates bzw. seiner Einrichtungen sind eher restriktiv anzunehmen, es sei denn, konkrete Normverstöße liegen vor. 28
Ist die öffentliche Sicherheit nicht betroffen, muss geprüft werden, ob die öffentliche Ordnungverletzt wird. Öffentliche Ordnung ist die Summe der ungeschriebenen Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens angesehen wird. 29Gemeint ist also ein Verstoß gegen außerrechtliche Normen. Denn rechtswidriges Verhalten berührt die öffentliche Sicherheit in Gestalt der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung. Was aber nicht gesetzlich verboten ist, ist grundsätzlich erlaubt. Daher ist die Zahl der Anwendungsbeispiele für eine Verletzung der öffentlichen Ordnung gering und zudem als polizeiliches Schutzgut bzw. Voraussetzung für polizeiliche Maßnahmen umstritten. 30Ungeachtet dessen setzt ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung voraus, dass
– es bezüglich des fraglichen Verhaltens eine außerrechtliche Sozialnorm gibt,
– die für das geordnete Zusammenleben unentbehrlich, ein Verstoß hiergegen dem Einzelnen also unzumutbar ist und
– das fragliche Verhalten öffentlich, also wahrnehmbar ist und gegen diese Sozialnorm verstößt. 31
1.3 Der Begriff der Gefahr
Gefahr ist neben der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung das zweite Tatbestandsmerkmal von § 1 Abs. 1 BbgPolG. Gefahr kommt in verschiedenen Formen vor. Unter einer konkreten Gefahr, die u. a. für Maßnahmen gemäß § 10 Abs. 1 BbgPolG vorliegen muss, ist eine Sachlage oder ein Verhalten zu verstehen, die bzw. das im Einzelfall, d. h. „hier und jetzt“, tatsächlich oder jedenfalls aus der Ex-ante-Sicht des gewissenhaft und besonnen handelnden Beamten bei verständiger Würdigung in naher, d. h. überschaubarer Zukunft bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die öffentliche Sicherheit oder Ordnung schädigen wird. 32Im Gegensatz dazu ist die abstrakte Gefahreine mögliche, d. h. gedachte Sachlage oder Verhaltensweise ohne Bezug zu einem konkreten Einzelfall, die nach allgemeiner Lebenserfahrung oder aufgrund fachkundiger Erkenntnisse typischerweise die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts in sich birgt. Sie liegt vor, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung eines bestimmten Verhaltens oder Zustands zu dem Schluss führt, dass bei ihnen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden zu erwarten ist, ohne dass in diesem Moment eine Gefahr im Einzelfall vorliegen müsste. Sie genügt gemäß § 1 Abs. 1 BbgPolG für die Bejahung der Zuständigkeit der Polizei. 33Darüber hinaus verwendet das Polizeigesetz folgende weitere Gefahrenbegriffe: 34
– eine gemeine Gefahrist eine konkrete Gefahr, die dann vorliegt, wenn einer Vielzahl von Personen ein Schaden an Leib oder Leben oder bedeutenden Sachenwerten droht (z. B. bei Naturkatastrophen, Großbränden oder anderen Havarien);
– eine gegenwärtige Gefahrist eine konkrete Gefahr, die dann vorliegt, wenn der Schaden an der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar, d. h. in allernächster Zeit bevorsteht oder bereits eingetreten ist und andauert (im letztgenannten Fall spricht man auch von einer Störung);
– eine erhebliche Gefahrist eine konkrete Gefahr, die bedeutende Rechtsgüter wie Leib, Leben, Freiheit, erhebliche Vermögenswerte (ab etwa 500,- Euro) oder den Bestand des Staates zu schädigen droht; sie deckt sich weitgehend mit der dringenden Gefahr, die ebenfalls eine konkrete Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut ist; 35
– Gefahr im Verzugliegt vor, wenn zur Schadensverhinderung das sofortige Eingreifen der unzuständigen Behörde erforderlich ist, weil ein Tätigwerden der an sich zuständigen Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. 36
– Neuerdings hat in die Polizeigesetzgebung die drohende GefahrEingang gefunden. Der Sache nach kennt auch das brandenburgische Polizeigesetz diese Gefahr, auch wenn es sie (anders als z.B. Art. 11 Abs. 3 BayPAG) begrifflich so nicht bezeichnet. 37Es handelt sich bei ihr um eine Sachlage, bei der entweder bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine Straftat nach § 28a Abs. 1 BbgPolG begehen wird, oder das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, sie werde innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine Straftat nach § 28a Abs. 1 BbgPolG begehen (vgl. § 28b Abs. 3 und § 28c Abs. 1 BbgPolG). 38
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