»Haaks Aussage bei der Dienstaufsicht lautete aber anders.« Burger hob beschwichtigend die Hände. »Er behauptet, der Typ hätte nur so getan, als ob er Di Marco den Laserstift geben wollte. Seiner Meinung nach hat er Di Marco das Leben gerettet.«
»Dieser Lügner«, ereiferte sich Di Marco, »ich hatte den G-Booster schon in der Hand, und Mia war bereits außer Reichweite.« Babic und Hensen nickten bestätigend.
»Nach Haaks Aussage konnten weder Babic noch Hensen die Aktion des Geiselnehmers präzise beurteilen. Babic nicht, weil sie zu nahe an ihm dran war, Hensen nicht, weil die Hand mit dem G-Booster aus ihrer Position gar nicht zu sehen war.«
»Da hat er recht, ich konnte die Hand wirklich nicht sehen«, gab Hensen zu, »aber seine Körpersprache zeigte ganz klar Aufgabe an.«
»Ich habe die Situation sehr wohl überblickt«, sagte Mia. »Ich stand circa einen Meter von dem Typen entfernt. Der ließ zu diesem Zeitpunkt deprimiert den Kopf hängen und reichte Di Marco den Booster, ohne aufzuschauen. Der Lauf des G-Boosters war seitwärts in Richtung Kasse zwei gerichtet. Dort stand niemand. Die nächststehende Person war eine ältere Dame, die kurz zuvor eine Tüte Möhren fallen gelassen hatte. Ich bin mir sicher, dass der Typ die Frau nicht einmal bemerkte.«
Di Marco nickte heftig mit dem Kopf.
»Bei allem Respekt, Mia, ich weiß, dass du ein extrem gutes Gedächtnis hast. Aber du warst in einer Stresssituation«, sagte Burger. »Und du hast selbst einen Artikel darüber geschrieben, wie trügerisch die subjektive Wahrnehmung in solchen Fällen sein kann. Außerdem hat die Dienstaufsicht die Positionen nachgeprüft und hält Haaks Aussage für plausibel. Und dessen Aussage wird durch Strickle gestützt, der den besten Blick auf die Szene hatte.«
»Das heißt, Haak hat keinerlei Sanktionen zu erwarten?«, regte sich Di Marco auf. Sein Hals hatte rote Flecken vor Ärger.
»So sieht’s aus, tut mir leid.«
Di Marco hämmerte mit der Faust auf Burgers Schreibtisch. »Ich bin nicht blind, ich hab seine Augen gesehen, und ich habe mittlerweile eine Menge Erfahrung.«
Hensen beobachtete ihn von der Tür aus, an der sie, als sie hereingekommen waren, stehen geblieben war. Sie wusste, dass Di Marco ein Hitzkopf war, Haak und Strickle allerdings traute sie auch nicht. Für sie sah es nach Vertuschung aus.
Auch Babic hielt es für unwahrscheinlich, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Andererseits: Sie war gestern zum ersten Mal seit damals wieder in einer solchen Situation gewesen. Und sie war mehr als froh gewesen, von dem Typen wegzukommen.
Burger stellte sich direkt vor Di Marco.
»Tut mir leid, aber da ist noch was. Du musst morgen bei der Dienstaufsicht aussagen, weil dir Fahrlässigkeit vorgeworfen wird. Bei allem Respekt.«
Er sprach sehr leise und sah Di Marco eindringlich an.
Di Marco explodierte. »Die haben sie wohl nicht alle!«, schrie er. »Da riskiert man sein Leben, und dann kommt so ein Gestörter und labert diese Sicherheitsleute voll, und plötzlich bist du der Schuldige. Ich fasse es nicht!«
»Sorry, Di Marco. Mia muss auch mit. Aber bleib ruhig. Schlaf drüber. Ihr könnt den Vorwurf morgen ja locker entkräften.«
»Konntest du die Sache nicht abblocken?«, ärgerte sich nun Hensen, der Burgers pseudoneutraler Ton auf die Nerven ging. »Der Vorwurf ist doch totaler Schwachsinn.«
»Was hätte ich tun sollen?«, fragte Burger ruhig. »Eine solche Befragung ist eine Routineangelegenheit.« Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen und legte Di Marco eine Hand auf die Schulter. »Lassen wir dieses Thema. Ich sag’s euch, das erledigt sich von selbst.«
Di Marco schob die Hand weg und ließ sich in einen der Besuchersessel fallen. Er war stocksauer. »Ich denke, wir machen für heute Schluss«, sagte Burger. »Wir haben morgen genug zu tun, deshalb solltet ihr euch jetzt mal ausruhen.«
Die Besprechung war zu Ende, zumindest für Babic und Di Marco.
»Wenn du noch kurz dableiben könntest, Richie?« Burger war neben Babic – und zuweilen Di Marco – der Einzige, der Hensen bei ihrem Vornamen nannte.
»Ich kann Mia ja zum Hotel bringen«, bot Di Marco an. Er hatte sich wieder gefangen.
»Ist das für dich okay?«, fragte Hensen.
Babic nickte. Sie wollte nur noch ins Bett.
*
Di Marco hatte sich den BMW ausgeliehen, um Babic ins Hotel zu fahren. Die ersten vier Minuten herrschte Schweigen.
»Wie …« – »Wie …«, begannen sie gleichzeitig zu sprechen.
»Du zuerst.«
»Nein du.«
»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen?« Di Marco erschien diese Frage unverfänglich genug, um einen Small Talk zu beginnen.
»Eigentlich eine ziemlich komplizierte Geschichte.« Die Idee hatte Babic damals schon lange mit sich herumgetragen.
»Den endgültigen Entschluss habe ich gefasst, nachdem ich versehentlich als Terroristin verhaftet worden war.«
»Hä?«
»Ich war gerade 20, mitten im Psychologiestudium. Ich hatte mir beim Bouldern den Knöchel gebrochen und musste ins Krankenhaus. Irgend so ein anonymer Möchtegernpolizist war anscheinend der Meinung, ich sei ein Mitglied der radikalen AntiGloCap-Zelle, und der Fahndungscomputer hat, aus welchen Gründen auch immer, diese Möglichkeit eingeräumt.«
»Und Computer können nicht irren!«, sagten beide gleichzeitig. Di Marco hatte mehrere Freunde, die zu der Zeit ebenfalls aufgrund von Computerfehlern in die Mangel der Polizei geraten waren.
»Ich hab mich total aufgeregt, aber diese Spinner von der politischen Sicherheit haben mich einfach aus dem Krankenhausbett gezerrt.«
Dass unbescholtene Bürger als Terroristen verhaftet wurden, hatte Babic damals nicht überrascht. Es war eine Konsequenz aus den verheerenden IS-Anschlägen Ende der 20er-Jahre und den Beschneidungen demokratischer Rechte, die daraufhin gefolgt waren. Nach der H1N1/29-Pandemie konnten auch die größten Optimisten die Grenzen internationaler Solidarität nicht mehr bestreiten. Die katastrophalen Folgen des Klimawandels, wie die Energiekrisen der frühen 30er-Jahre und die großen afrikanischen Wasserkriege mit ihren Massenwanderungen, hatten die internationale Gemeinschaft schließlich endgültig zersplittert.
Nach der amerikanischen Ölsperre hatten sich die EU-Mitgliedstaaten geeinigt, die Rolle der Europäischen Union und insbesondere des Europäischen Parlaments in der Legislative und der Exekutive entscheidend zu stärken sowie die Vereinigten Staaten von Europa (EUS), mit eigener Verfassung und einer europäischen Zentralregierung, zu gründen. Großbritannien, dessen konservative Politiker auch Jahrzehnte nach dem Brexit noch an die Rückkehr des British Empires glaubten, entschloss sich nach einigem Hin und Her, der Gemeinschaft als assoziierter Sonderstaat beizutreten, ebenso alle skandinavischen Staaten. Der nächste Schritt war der Aufbau einer zentralen europäischen Armee (CEF) unter der Zuständigkeit des europäischen Verteidigungsministeriums gewesen. Der übernächste die Einrichtung einer zentralen europäischen Bundespolizeiorganisation, die vor allem für Kapitalverbrechen, organisierte Kriminalität und Terrorismus zuständig war.
Da sich die europäischen Staaten ohne die USA auch nicht sicherer fühlten, war es jetzt erst richtig losgegangen: verschärfte Sicherheitsgesetze, die Einführung von Rasterfahndungsprogrammen und der Einsatz routinemäßiger Genanalysen. In Europa entstand eine Atmosphäre kollektiver Paranoia. An fast jeder Straßenecke hingen Kameras, und der Polizei saß der elektronische Knüppel bei Systemgegnern jeglicher Art recht locker.
»Ich weiß noch, wie ich immer gelacht habe, wenn meine politisch engagierten Studienkollegen meinten, ›Passt auf, dass euer Steckbrief nicht irgendwie einem gerade frisch ausgegebenen Fahndungsraster entspricht.‹ Und dann habe ich es selbst erlebt.« Babic ballte die Fäuste bei der Erinnerung daran. »Ich sag dir, die sind mit mir umgegangen, als wäre ich der letzte Dreck. Und weißt du, was der größte Witz war? Das AntiGloCap-Mitglied, für den der Denunziant und der Computer mich gehalten hatten, war ein Mann gewesen.«
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