Babic schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf.
»Selbstverständlich«, antwortete der Assistent mit verwirrtem Blick auf Hensen.
»Di Marco, lass den Quatsch«, mischte sich Hensen ein.
»Okay, okay. Was wollten Sie mit Mallmann besprechen?«
»Wir hatten heute mehrere Themen zu diskutieren. Das wichtigste war die Formulierung eines Antrags für die Freistellung von virtuellen Ersatztätigkeiten, wie Straßenkehren, Einkaufstüten in den virtuellen Supermärkten bepacken und so weiter.«
»Warum Ersatztätigkeiten?«, fragte Babic dazwischen, obwohl sie keinen Schimmer hatte, ob dies relevant für den Fall war.
»Wir hatten in letzter Zeit Schwierigkeiten mit den von Microsoft programmierten Waldbränden«, stotterte der Assistent.
Um gewährleisten zu können, dass die Networker im Netz auch Arbeit hatten, war ein Teil der Arbeit bereits im Virtual-Work-Programm vorgegeben, etwa die Pflege von Gärten oder das Konstruieren, Bauen und Abreißen von Häusern. Microsoft hatte auch regelmäßig ausbrechende Feuerinfernos in leeren VR-Distrikten einprogrammiert, die zur Beschäftigung der zahlreichen Feuerwehrbrigaden dienten. Dies reichte allerdings nicht aus, alle Networker ausreichend zu beschäftigen.
Eine der letzten Verordnungen, die Arthur Mallmann als Arbeitsminister angeregt hatte, um die Beschäftigung im Netz zu erhöhen, war nach einem Jahr Probelauf der Virtual Work die Bestimmung gewesen, dass jeder Networker zumindest eine Stunde täglich die Dienste eines anderen Berufs in Anspruch nehmen musste. Diese Stunde wurde als Arbeitszeit berechnet. Selbstverständlich konnte man in seiner Freizeit auch mehr Stunden nützen, ebenso war dies den von der Netzarbeit Befreiten möglich.
»Was für Schwierigkeiten?«, hakte Babic nach.
»Es hat über einen Monat nicht mehr gebrannt, und die Feuerwehrbrigaden hatten keine Arbeit mehr. Wenn wir wirklich durch Beschäftigung Unruhen vermeiden wollen, dann müssen auch solche Eventualitäten abgesichert sein. Es darf nicht sein, dass jemand im Netz ohne Arbeit ist.«
»Was gab’s noch zu besprechen?«, übernahm Hensen wieder.
Pescz schien mit der Simultanbefragung durch die drei etwas überfordert und blickte hektisch von einem zum anderen.
»Hauptsächlich Termine für den nächsten Tag durchgehen. Doktor Mallmann ist ein gefragter Mann«, erklärte er hochnäsig.
»War«, korrigierte Di Marco. »Und weiter?«
Der Assistent zögerte, setzte zum Sprechen an, überlegte es sich aber anders und schwieg.
Hensen hatte keine Lust mehr auf Frage-Antwort-Spielchen. Sie baute sich einen halben Meter vor dem Assistenten auf, sah ihm von unten direkt in die Augen und lächelte ihn an. Sie war zwar nur ein Meter 60 groß, aber mit einer Zwei-Meter-Persönlichkeit. Der Assistent hielt ihrem Blick vielleicht zwei Sekunden stand. Hensens Lächeln hatte in etwa die Harmlosigkeit einer Sandviper, als sie auf einen elektronischen Timer und mehrere archaisch anmutende Aktenmappen deutete, die direkt neben der Videosprechanlage auf einem kleinen Abstelltischchen lagen und von denen sie annahm, dass darin die Besprechungsinhalte festgehalten waren.
Die Wiedereinführung von Akten auf Papierbasis in allen europäischen Bundesbehörden zur Archivierung geheimer Daten war eine der umstrittensten Aktionen der EPD gewesen. Allerdings sprach viel dafür, dass Papier-Akten, die von Security-Servanten bewacht wurden, sicherer waren als die meisten elektronisch archivierten Dokumente.
»Könnten wir bitte diesen Timer und die Aktenmappe einsehen?«, fragte sie betont süßlich.
Der Assistent war sichtlich eingeschüchtert und trat einen Schritt zurück. Die gewonnene körperliche Distanz verschaffte ihm wieder etwas Mut, und er wand sich. »Das ist alles Top Secret. Ich kann Sie keine Einsicht nehmen lassen.«
»Wir sind Bundespolizisten. Solange es sich nicht um A-Class-Dokumente handelt, benötigen wir nicht einmal eine richterliche Anordnung.«
Das war schlichtweg gelogen. Hensen spekulierte darauf, dass der Assistent in Sachen Akteneinsicht nicht bewandert war und sich durch die Erwähnung von A-Class-Dokumenten, die der höchsten Geheimhaltungsstufe der Sicherheitsdienste des Europäischen Bundes unterlagen, bluffen lassen würde.
»In Ordnung, ich zeige Ihnen die Akten. Aber bitte behandeln Sie die Inhalte vertraulich.«
Pescz stelzte zu dem Tisch, hob die Akten auf und reichte sie mit gespreizten Fingern an Hensen weiter.
An einem Besprechungstisch, der im hinteren Teil des Raums platziert war, machten sich Hensen, Babic und Di Marco an die Arbeit.
*
Die Daten, die Hensen und Babic dem Timer entnehmen konnten, stimmten mit den Angaben des Assistenten überein. Der elektronische Kalender zeigte für den Tag nach dem Mord eine Fülle von Terminen an, und zwar mit der Spitzenriege: dem Europäischen Sportminister, dem Arbeitsminister der deutschen Staatsregierung, dem stellvertretenden Vorsitzenden der European Assurance Deutschland.
Dazu kamen drei private Termine: einer mit dem ältesten Sohn Mallmanns, der als Juniormanager bei der European Assurance London arbeitete, ein zweiter mit der Ex-Frau Mallmanns und ein dritter mit einer gewissen Naomi, die den Angaben zufolge bei einer Berliner Callgirl-Agentur arbeitete. Die Termine am Mordtag waren weitgehend unergiebig, da sie alle, mit Ausnahme jenes mit seinem Assistenten, mindestens eine Stunde vor dem geschätzten Todeszeitpunkt Mallmanns geendet hatten.
Als wesentlich interessanter erwies sich die Lektüre der Aktenmappen. Zunächst musste sich Di Marco allerdings durch eine ellenlange, ermüdende Beschreibung der Geschichte der Virtual Work quälen. Er fragte sich gerade, wie er in diesem Gebäude an einen Kaffee kommen könnte, als er auf die Konzeption für die Entwicklung und Umsetzung von virtuellen Ersatztätigkeiten für häufig nachgefragte Netzprofessionen stieß. Kreativ war die EPD, kein Zweifel. Was die sich für virtuelle Tätigkeiten ausdachten: Umfragen bei den Networkern durchführen, welche Farbe die Ruhebänke an den Landstraßen haben sollten, die ohnehin nie jemand benutzte, dann die Ruhebänke in diesen Farben streichen; die Alterung der Fassade von Stadthäusern mithilfe virtueller Rauchkanonen simulieren, um den Fassaden dann wieder einen neuen Anstrich zu geben und so weiter. Sinnlose Tätigkeiten, die nur dazu da waren, den Leuten etwas zu tun zu geben.
Seine Kaffee-Erwägungen verflogen vollends, als Di Marco auf den Antrag stieß, Servanten Bürgerrechte einzuräumen, um sie zu vollwertigen Konsumenten und Steuerzahlern zu machen.
»Leute, ich habe hier was Interessantes«, rief er Hensen und Babic zu sich. »Mit diesem Antrag hätte er sich mit Sicherheit Feinde gemacht, vor allem bei den Freien Einheitlichen.«
Die Frei-Einheitliche Partei, die stärkste oppositionelle Kraft im deutschen Staatsparlament, kämpfte nicht nur für eine Befreiung Deutschlands von den Ausländern, also mit denselben Plattitüden, mit denen nationalistische Bewegungen schon immer geworben hatten; ihr Kampf gegen alles Fremde richtete sich auch gegen Servanten, in denen sie ein Verbrechen an der natürlichen Einzigartigkeit des menschlichen Wesens sahen.
»Meinst du, dass die dahinterstecken könnten?«, fragte Babic.
»Wenn’s einer von denen war, wäre es zumindest nicht verwunderlich, dass er auch gleich den Servanten plattgemacht hat.«
Hensen dämpfte Di Marcos Enthusiasmus ein wenig. »Das ist eine Hypothese, mehr aber auch nicht. Hier ist jemand ganz offensichtlich, von Mallmann unbemerkt, in die Wohnung eingedrungen, um ihn zu töten. Dafür musste zunächst der Service-Servant ausgeschaltet werden. Das gilt für jeden, der Mallmann umbringen wollte. Also spricht zunächst noch gar nichts für die Einheitlichen. Aber wir behalten sie im Auge.«
»Hat sich eigentlich schon jemand beim Pförtner-Servanten erkundigt, wer heute alles zu Mallmann wollte?«
Читать дальше