»Wir kriegen normalerweise nur was mit, wenn sich die Geschädigten beschweren und eine Ermittlung durch die SBBK fordern.« Di Marco hatte Glück bei der Kellnerin und bestellte zwei Espressi, einen für sich und einen für Hensen.
Er zwinkerte Hensen zu und holte zur Erklärung aus. »Das kommt immer wieder vor. Wenn du im Netz ermordet wirst, musst du einen Antrag auf Wiederauferstehung stellen, wie der Volksmund das nennt. Wenn du genug Geld hast, dann geht dies relativ schnell, wenn du keine finanziellen Mittel hast, musst du warten.«
»Und in der Zeit kannst du keine Netzdienste in Anspruch nehmen und kassierst kein Bürgergeld«, konstatierte Babic.
»Gut, Mia«, grinste Di Marco.
»Mit solchen Sachen haben wir oft zu tun, Leute kommen, beschweren sich, Ermittlungen werden aufgenommen, es wird versucht, den Leuten Übergangsgelder zu bezahlen und so weiter«, schaltete sich Hensen wieder ein. »Aber das ist nicht das Hauptproblem bei unserem Fall.«
Offenbar fühlte sie sich nicht wohl, denn sie rutschte auf ihrem Designerstuhl hin und her.
»Bei unserem Fall wurden in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder Netzidentitäten ermordet, und zwar auf alle möglichen Arten: aufgeschlitzt, überfahren, erschossen, erschlagen. Also ganz normale Netzmorde, die gemeldet werden müssen, und dann bekommen die Leute irgendwann ihre alte Identität wieder.«
Hensen zog an ihrem dritten Nikotinstick.
»So sah es zumindest aus. Einem neuen Kontrolleur in der Netzverwaltung, der gerade erst eine Woche im Job war, kam es zunächst seltsam vor, dass niemand kam, um die Morde zu melden. Die automatische Netzüberwachung gab zwar an, dass die Morde geschehen waren, aber es tauchte eben niemand auf, um eine Wiederauferstehung zu beantragen.«
Sie legte den Nikotinstick beiseite.
»Eingeschaltet wurden wir dann, als die Identitäten plötzlich wieder da waren, ohne dass die Netzverwaltung etwas unternommen hatte. Der Kontrolleur hat das nachgeprüft, bevor er zu uns kam.«
»Hat er euch mitgeteilt, wem die Identitäten gehören? Und habt ihr schon Kontakt mit den Leuten aufgenommen und nachgefragt, was da los ist?«
Babic wusste, dass ihre Frage eine rein rhetorische war, sonst wäre dies wohl kaum ein besonderer Fall gewesen.
Hensen richtete sich auf. »Keines von beidem. Wir haben den Kontrolleur beauftragt herauszufinden, zu welchen Personen die Netzidentitäten gehören.«
»Und?«
Hensen kramte einen mobilen Holografen aus ihrem Rucksack und stellte ihn auf den Tisch. Eine 3D-Darstellung einer spärlich beleuchteten Gasse flackerte auf.
Ein Mann am Nachbartisch räusperte sich missbilligend.
Hensen streckte, ohne hinzuschauen, ihren Dienstausweis in die Luft.
Der Mann schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seiner Hummersuppe mit grünem Spargel.
»Zwei Tage später lag er mit durchgeschnittener Kehle in einem Hauseingang in Friedrichshain. Laut den ermittelnden Beamten der Stadtpolizei, das waren übrigens Haak und Strickle, die du ja schon kennengelernt hast, handelte es sich um einen von einer Jugendgang verübten Mord.«
Der Holograf zeigte einen untersetzten Beamten, der sich über eine am Boden liegende Gestalt beugte.
»Haak?«
Hensen nickte und spulte zurück.
»Die Satellitenüberwachung lieferte keine brauchbaren Bilder. Aber wir haben Bilder von einer alten Überwachungskamera. Nur HD-Format.«
Der Holograf zeigte einen knapp 30-jährigen dünnen Mann in Hawaiihemd und Cordhose, der – offenbar leicht angetrunken – durch die Gasse schlenderte.
»Jetzt pass auf!«
Aus dem Halbdunkel eines Hauseingangs trat eine füllige Frau mit kurzem Rock, großer Sonnenbrille und toupierten wasserstoffblonden Haaren.
»Pass auf, die Frau hat wohl gewusst, wo die Kamera installiert ist. Ihr Gesicht ist kein einziges Mal in der Frontaleinstellung zu sehen.«
Die Frau folgte dem Mann. Dieser drehte sich irritiert um. Als er sah, dass es sich bei seinem Verfolger um eine Frau handelte, nickte er ihr freundlich zu. Plötzlich rannte die Frau auf ihn zu und schien ihn zu umarmen. Der Mann brach zusammen, um seinen Kopf bildete sich eine Blutlache.
Hensen zoomte auf den Mann. Seine Augen waren weit aufgerissen, er hatte eine klaffende Wunde am Hals. Die Frau war so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Hensen stoppte die Aufnahme.
Jetzt räusperten sich schon mehrere der Gäste an den Nachbartischen.
Hensen ignorierte sie. »Und?«, fragte sie Babic.
»Das ist wahrscheinlich keine Frau.«
»Warum? Das Gesicht ist doch kaum zu sehen?«
Babic lehnte sich zurück. »Drei Punkte. Spul mal kurz zurück … Ja, halt.
Schau mal, wie sich die angebliche Frau bewegt. Sie geht breitbeinig. Hier, schau, greift sie sich an den Po, als ob der Rock sie stört. Stopp …«, sagte Babic. Hensen hielt den Film an.
Di Marco kniff die Augen zusammen und nickte dann. »Dass mir das vorher nicht aufgefallen ist.«
Hensen räusperte sich. »Hey, könnt ihr mich mal aufklären?«
Di Marco wandte sich ihr zu. »Schau mal auf die Bewegung der Brust beim Niederbeugen. Das sieht doch nicht echt aus?«
Hensen sah genauer hin. »Tatsächlich.«
Babic fuhr fort: »Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Indikatoren, wie zum Beispiel das Unterschenkel-Hüft-Verhältnis. Aber egal, das ist keine Frau. Außerdem, da ist noch was anderes.«
Sie holte einen bleistiftförmigen Stick aus der Tasche, steckte ihn in den Holografen und gab ein paar Befehle in ihr Visiophone ein. Im Bild erschien ein roter Pfeil, der vom Kopf der Frau zum Seitenrand des Hologramms reichte.
»Passt auf. Es sieht so aus, als ob die Frau immer wieder zur gleichen Stelle schaut.«
Sie schaltete den Film wieder an, und der Pfeil bewegte sich hin und her. Sie wandte sich an Hensen.
»Mit absoluter Sicherheit kann ich das natürlich nicht sagen, weil wir das Gesicht nicht richtig auf dem Schirm haben. Habt ihr Bilder von der Stelle, wohin die Pfeile zeigen?«
»Nein, die müssen irgendeinen Störsender eingesetzt haben, sodass wir in diese Ecke keinen Einblick haben.«
Hensen schaltete den Holografen aus und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Habt ihr schon herausbekommen, welche Personen hinter den wieder auferstandenen Identitäten stecken?«, fragte Babic.
»Da sind wir gerade dran«, erläuterte Di Marco. »Es gibt aber ein Problem. Die anderen Kontrolleure der Netzverwaltung geben an, dass sich die Gesamtzahl der Netzidentitäten nicht verändert habe, und weigern sich deshalb, Auskunft zu geben, wem die vernichteten Netzidentitäten gehörten.«
»Und warum?« Bei Babic hatte es noch nicht geklickt.
»Wir haben keine Berechtigung, die Identitäten der realen Personen zu erfahren, denen die Netzidentitäten gehörten …«
»… weil die Gesamtzahl der Netzidentitäten ja gleich geblieben ist, das Problem für die Verwaltung somit ein nur bürokratisches ist und die Netzverwaltung deshalb keine Aufhebung des Datenschutzes erlaubt.« Jetzt hatte Babic kapiert, worum es ging.
»Aber wie kann man dann überhaupt herausbekommen, zu wem die Identitäten gehören?«
»Es gibt mehrere Möglichkeiten. Die erste funktioniert nur, wenn die Netzidentitäten, die ermordet wurden und wieder auferstanden sind, schon mal im Netz straffällig geworden sind«, erklärte Hensen.
Die Netzverwaltung musste gegenüber einem Beamten der Bundespolizei, einem Beauftragten einer staatlichen Organisation oder einem Sicherheitsangestellten der European Assurance die reale Identität eines Networkers trotz Datenschutz dann offenlegen, wenn diese Person im Netz, in ihrer Netzidentität also, einmal straffällig geworden war.
»Also versuchen wir zu überprüfen, ob die ermordeten und wieder auferstandenen Identitäten schon mal im Netz straffällig geworden sind, dann erhalten wir die Namen der Besitzer und können schauen, ob mit der Auferstehung alles koscher war.«
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