Ella verzieht das Gesicht wegen des plötzlichen Lärms und Kajsa lächelt: »Wie schön, dass es dir geschmeckt hat. Übrigens wollte ich dich fragen, was für einen Film wir fürs Wochenende ausleihen sollen.«
»Denkst du morgen an mich?«, fragt Ella.
»Vielleicht habt ihr einen neuen, gut aussehenden Lehrer«, sagt Josefin aufmunternd.
Tomas kaut verbissen sein Essen. Helen, Rasmus und Julia starren Josefin an, die weiter ins Telefon plappert, als ob die Familie nur Kulisse wäre!
Zu Hause bei Ella diskutiert Kajsa unverdrossen das Thema Freitagabend-Video und scheint nicht zu merken, dass Ella immer noch telefoniert.
»Josefin kann doch rüberkommen, dann können wir wieder zu dritt gucken! Das ist doch immer so gemütlich!«, schlägt sie vor. Viele Abende war es so. Kajsa, Ella und Josefin saßen auf dem Sofa, haben Popcorn und Süßigkeiten gegessen und sich bis spät in die Nacht Filme reingezogen.
»Ich könnte vielleicht einen Sessel kaufen!«, fährt Kajsa fort.
»Dann könnte ich im Sessel sitzen und ihr auf dem Sofa!«
»Sollen wir ins Kino gehen?«, fragt Josefin.
»Nein, selbstverständlich werde ich mich zurückziehen!«, fährt Kajsa fort.
»Da können wir doch nicht reden!«, protestiert Ella in den Hörer.
»Das macht nichts«, antwortet Kajsa großzügig. »Ich ziehe mich gerne zurück. Wir können ja irgendwann miteinander reden, du und ich!«
Ella greift sich die Zeitung und blättert zu den Veranstaltungsanzeigen.
»Wie wäre es denn damit? ›Krabbenabend in der Blauen Woge. Bis 22 Uhr Eintritt frei für alle schönen Damen‹. Steht keine Altersbegrenzung!«
»Was? Wollt ihr ausgehen?«, ruft Kajsa mit vollem Mund.
»Das ist für Gruftis«, stellt Josefin fest.
»Natürlich könnt ihr ausgehen, das meine ich nicht!«, beteuert Kajsa.
»Eigentlich sieht man schrecklich aus, wenn man kaut«, sagt Josefin und betrachtet ihre ärgerlich kauende Familie am Esstisch.
»Wie alt denn?«, fragt Ella niedergeschlagen, ohne Kajsa eines Blickes zu würdigen.
»Halbgruftis. Das wäre vielleicht was für deine Mutter?«
»JOSEFIN!«, brüllen Josefins Eltern schockiert, was Julia und Rasmus in Lachen ausbrechen lässt.
»Nein, sie ist allergisch gegen Krabben«, antwortet Ella.
Da spitzt Kajsa die Ohren.
»Aber Liebes, du brauchst nicht an mich zu denken. Geht ihr nur!«, sagt Kajsa.
»Schau dir doch mal den Mund an, der auf und ab hopst! Sieht doch bescheuert aus!«
Josefin muss lachen, als sie ihren kauenden Vater anschaut. Zum ersten Mal schaut Ella Kajsa an. Josefin hat Recht. Man sieht bescheuert aus, wenn man kaut. Traurig, aber wahr. Muss man sich jetzt auch noch darüber Gedanken machen?
Jetzt reicht es Josefins Mutter. Sie knallt die Gabel auf den Tisch, steht auf und brüllt: »ICH HABE MIT VIEL MÜHE ETWAS GEKOCHT UND VERSUCHT ES EIN BISSCHEN NETT . . .!«
»Tschüss, bis dann!«
Josefin beendet schnell das Gespräch.
»Tschüss, bis dann!«, antwortet Ella und legt auf.
Plötzlich wird ihr bewusst, dass Kajsa mit ihr spricht. Sie scheint schon eine ganze Weile gesprochen zu haben. Sie schaut Ella freundlich an und sagt liebevoll: »Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern. Wirklich nicht! Ich meine es ehrlich. Ich bin selbst erstaunt, aber es ist wahr!«
Kajsa lächelt und nickt aufmunternd. Ella weiß nicht, wovon sie spricht, schlägt entnervt die Zeitung zu und tut sich Essen auf.
Es ist Abend. Josefin liegt im großen Doppelbett der Geschwister und liest Julia und Rasmus etwas vor. Julia ist fünf, ein kleiner Mensch in der Welt, voller Spiele und Bewegungsdrang und Neugierde. Jetzt ist Schlafenszeit, das Nachthemd ist angezogen, die Zähne sind geputzt und in ihren kinderduftenden Haaren glitzert eine Prinzessinnenkrone.
Auf der anderen Seite liegt Rasmus. Er ist zwei Jahre älter als Julia und geht schon in die Schule. Da lernt er, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Noch ist er klein, aber er wird größer werden als Josefin und Julia, größer als die Mutter. Vielleicht sogar größer als der Vater. Noch liegt er weich neben seinen Schwestern und hört dem Märchen Dornröschen zu.
Der Prinz hat sich mit seinem blanken Schwert durch die lebensgefährlichen Dornen gekämpft und steht vor Dornröschen, die ihren hundertjährigen Schlaf schläft. Sie ist so schön, dass er sich sofort verliebt, und er kann sich nicht zurückhalten und küsst ihre bleichen Lippen. Da geschieht ein Wunder. Sein Kuss bricht den Zauber und ihre Lippen bekommen Farbe. Dornröschen schlägt die Augen auf und lächelt ihren Erretter an. Endlich beginnt das Leben!
»Und Dornröschen wurde die schönste Braut, die man je gesehen hatte, und sie lebte glücklich mit ihrem Prinzen bis ans Ende ihrer Tage.«
Josefin schlägt das Buch zu und sagt den Kindern Gute Nacht.
Aber Julia kann nicht einschlafen.
»Josefin, ich möchte auch eine Prinzessin sein«, sagt sie.
»Das kannst du nie werden!«, sagt Rasmus altklug.
»Das kann ich wohl! Wenn ich einen Prinzen heirate!«, antwortet Julia schnell.
Aber Rasmus weiß, dass die Welt nicht voller Prinzen ist.
»Es gibt keine Prinzen«, triumphiert er trocken.
Julias Herz pocht aufgeregt in der Brust.
»Gibt es wohl!«, sagt sie eigensinnig.
Rasmus grinst.
»Und außerdem kann ich selber bestimmen, dass ich eine Prinzessin bin!«
»Kannst du nicht!«, schreit Rasmus wütend.
»Doch, weil ich über mich selbst bestimmen kann!«, antwortet Julia stolz.
»Auf jeden Fall bist du keine Prinzessin!!!«, konstatiert Rasmus auftrumpfend.
Das tut Julia weh. Warum behauptet er, dass sie keine Prinzessin sein kann? Warum denn nicht?
»Hört auf zu streiten«, bittet Josefin. »Es ist doch bloß ein Märchen! Ihr sollt jetzt schlafen.«
Sie liegen ein Weilchen still da und denken nach.
»Auch in ›Schneewittchen‹ regelt der Prinz am Ende alles«, sagt Rasmus schließlich zufrieden.
»So geht es eben im Märchen zu. Gute Nacht und schlaft gut«, sagt Josefin. Sie will, dass sie schlafen.
»Josefin . . .«, sagt Julia leise. »Ich möchte eine Prinzessin sein, die einen Prinzen erweckt.«
Josefin streicht ihr lächelnd über die Wange, aber da fährt Rasmus hoch wie vom Blitz getroffen und brüllt, wütend über die Dummheit seiner Schwester: »ABER SO LÄUFT DAS ÜBERHAUPT NICHT!!!«
»IM MÄRCHEN KANN ES SO LAUFEN!!!«, brüllt Julia zurück.
»GUTE NACHT UND SCHLAFT JETZT GUT!!!«, ruft Josefin und drückt sie ins Bett zurück.
Die Kinder kneifen die Augen zusammen, aufgeregt und wütend wegen der vielen Missverständnisse und Ungerechtigkeiten.
Aber irgendwann beruhigen sie sich und schlafen ein. Josefin genießt es, zwischen ihnen zu liegen, ihren ruhigen Atem zu hören, ihre weichen, warmen Körper zu spüren. Manchmal lachen sie im Schlaf. Besonders Julia. Ein leichtes, kullerndes Lachen, das über ihr Gesicht tanzt. Was sie wohl träumt, die kleine Schwester?
Josefin sieht ins Dunkel, das gegen das Fenster drückt. Irgendwo da draußen ist der, dem sie ihre Liebe geben darf. Sie darf dann sie selber sein, mit all den großen Gefühlen, die sie in sich trägt. In diesem Moment bewegt er sich, sein Herz schlägt, er atmet und vielleicht fragt er sich, wo sie wohl sein mag. Wer sie ist. Wann sie kommt.
Julias Prinzessinnenkrone ist verrutscht, ist über ihre kleine Nase gerutscht. Josefin macht sie vorsichtig los und setzt sie sich auf den Kopf.
Ella sitzt am ersten Tag nach den Ferien in der Schule.
Eine Art schläfriger Enttäuschung liegt über der Klasse. Noch ein Sommer ist vorüber. Und jetzt findet das Leben wieder nach den Vorgaben der Schule statt. Endlose Schulstunden in sauerstoffarmen Klassenzimmern, uninteressante Bücher, die voll geschrieben sind mit kleinlichen Buchstaben, die die Gedanken zu Boden zwingen wollen, und Pausen, in denen man versuchen muss seinen Status zu behaupten.
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