Nachdem Carla Sturm geklingelt hatte, ertönte der Türsummer. Das Haus war ein sanierter DDR-Block aus den 1950er Jahren, der sich mit zwei Stockwerken und Spitzdach etwa hundert Meter an der Straße entlangzog. Die Wohnung von Nico Römers Kompagnon Leo Rapp lag im oberen Geschoss.
Als Carla die Treppe hinaufstieg und in der zweiten Etage ankam, stand der junge Mann im Türrahmen und kniff verschlafen die Augen zusammen. Er hatte eine drahtige Figur und war lediglich mit einer knappen schwarzen Unterhose bekleidet. Auf einer unbehaarten Brust prangte ein Eidechsen-Tattoo.
»Ja?«
Carla hielt ihre Dienstmarke hoch.
»Sind Sie Leo Rapp? Carla Stach von der Kripo Neuruppin. Wir haben mehrere Male versucht, Sie auf Ihrem Handy zu erreichen.«
»Hallo? Vielleicht penn ich mal nachts? Geht es um den Einbruch?«
»Das würde ich gerne drinnen mit Ihnen besprechen.«
Der junge Mann bedeutete Carla mit einer Handbewegung, einzutreten. Im Flur roch es muffig nach Schlaf und Bier.
Carla wurde in ein Wohnzimmer geführt, wo Chaos herrschte. Überall lagen Kabel, leere Bierflaschen, Klamotten und zerknüllte Taschentücher herum. In den Ecken stapelten sich Computer und Monitore; an einer Wand hing ein überdimensionaler Fernseher.
»Leo! Wer ist denn da?«
Eine weibliche Stimme kam aus einem angrenzenden Zimmer, dessen Tür einen Spaltbreit offen stand.
»Leo! Ist da Besuch?«
Der junge Mann verdrehte die Augen. »Halt’s Maul! – Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er zu Carla und befreite eilig einen Sessel von einer gebrauchten Unterhose.
»Ich stehe lieber«, sagte Carla, der es widerstrebte, sich in dem Durcheinander niederzulassen.
»Leo! Warum antwortest du nicht? Geht man so mit einer Frau um?«
»Ich zieh mir nur rasch was über«, sagte Rapp zu Carla und verschwand im Nebenzimmer, ohne die Tür ganz zu schließen, sodass Carla den Geräuschen nebenan folgen konnte.
»Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten? Da draußen ist ’ne Kripotante.«
»Kripo? Hast du schon wieder was ausgefressen?«
Es folgte ein Rascheln, als würde eine Bettdecke weggezogen.
»Hey, Leo, was soll das? Spinnst du?«
»Abflug jetzt!«
»Hey! Vielleicht bin ich mal deine Freundin?«
»Gewesen. Raus!«
»Leo! Ich warne dich! Du gehst zu weit!«
Wieder Geraschel. Dieses Mal hörte es sich so an, als streifte sich jemand Kleidung über. Kurz darauf kam eine stark geschminkte Frau in einem engen Kleidchen heraus. Sie hüpfte auf einem Bein, während sie sich einen hochhackigen Schuh anzog. Von hinten flogen eine Handtasche und ein Felljäckchen auf sie zu; beides traf sie an der Schulter.
»Aua! Leo!«
Sie schlüpfte in den anderen Schuh, streifte das Jäckchen über und warf Carla einen schmollenden Blick zu.
»Sehen Sie, was er mit mir macht? Das ist doch Gewalt, oder? Kann ich ihn jetzt anzeigen? Mein Name ist übrigens Sherrie, falls Sie ihn brauchen. Sherrie Schmidt.«
Carla hatte nicht die geringste Lust, sich in den Zank einzumischen, obwohl sie den Impuls verspürte, der Frau zu raten, dem Kerl eine saftige Ohrfeige zu verpassen. Oder einen Tritt in seine empfindlichste Stelle. Aber darauf musste sie selbst kommen.
Carla hatte auch einige Beziehungen zu Typen wie Leo Rapp hinter sich, von deren Dominanz sie sich anfänglich sexuell angezogen gefühlt hatte. Ihr Unwille, sich unterzuordnen, hatte jedoch immer dazu geführt, dass diese Beziehungen mit viel Getöse in die Brüche gegangen waren.
Inzwischen war Leo Rapp in Jeans und T-Shirt geschlüpft, kam aus dem Schlafzimmer geschossen und versetzte Sherrie einen Schubs, der sie vorwärtsstolpern ließ. Die Handtasche hob er flink auf.
»Wissen Sie, was er von mir verlangt hat?«, rief Sherrie in Carlas Richtung, bevor sie mit einem zweiten Schubs im Flur verschwand. »Fesseln und vergewaltigen wollte er mich, das perverse Schwein!«
Carla hörte, wie die Haustür aufgerissen und die Frau nach draußen gestoßen wurde. Ein dumpfer Knall deutete darauf hin, dass die Handtasche hinterhergeworfen worden war.
»Bild dir bloß nichts ein, Arschloch«, schrie Sherrie in einer Lautstärke, die vermutlich die gesamte Nachbarschaft aus den Betten riss. »Ich hab schon besser gefickt, du Schlappschwanz!«
Das war zu lau, Kleine, dachte Carla, als die Wohnungstür mit einem Rums ins Schloss fiel. Du hättest ihm den Absatz in die Eier rammen sollen.
»Entschuldigung!« Rapp rieb sich die Hände und steuerte eine kleine Küche an, die neben dem Wohnzimmer lag. Eine Kühlschranktür wurde geöffnet. »Manchmal muss man halt durchgreifen. Auch eins?« Der Zeuge erschien im Türrahmen und hielt eine Bierflasche in die Luft.
Carla hätte ein Bier gut gebrauchen können.
»Nein.«
Solche Typen wie Rapp weckten in Carla kämpferische Gefühle. Am liebsten hätte sie dem Kerl eine aufs Maul gegeben. Schade, dass sie im Dienst war.
Zurück im Zimmer schnappte sich Rapp einen Stuhl, schwang ihn in einem Halbkreis vor sich hin und setzte sich verkehrt herum drauf.
»Ich hab der Bullerei doch schon alles gesteckt«, sagte er. »Außerdem: Checken Sie hin und wieder mal die Uhrzeit?« Er klopfte auf seine Armbanduhr.
»Ich bin nicht wegen des Einbruchs hier«, sagte Carla. »Es geht um Ihren Geschäftspartner.«
»Nico? Was hat er angestellt?« Rapp trank einen Schluck aus der Bierflasche.
»Wissen Sie, wo er sich heute Nacht aufhält?«, fragte Carla.
Der Zeuge verzog seinen Mund. »Vermute mal, zu Hause. Hab die Fluppe seit fast einer Woche nicht gesehen.«
»Seit einer Woche? Warum?«
»Gute Frage! Letzten Montag rief er an und meinte: ›Kann heute nicht kommen, bin platt.‹ Darauf ich: ›Ey, Alter, was ist mit den Rechnern? Die Kunden warten.‹ Darauf er: ›Gib mir zwei Tage.‹ Von wegen! Ich hatte den Mist die ganze Woche allein an der Hacke. Nicht mal das Geschäft konnte ich aufmachen, weil ein Außentermin den nächsten gejagt hat.«
Leo Rapp stellte die Bierflasche am Boden ab.
»Verstehe ich das richtig?«, sagte Carla. »Sie betreuen die Kunden vor Ort, und Ihr Kumpel repariert im Geschäft die Rechner?«
»Jep. Meistens mach ich die Computer bei den Kunden klar. Bei größeren Sachen und wenn ich länger brauche, nehme ich das Ding mit in den Laden. Da beginnt dann Nicos Job. Aber mein Kumpel bewegt seinen Arsch auch zu Kunden, so ist das nicht.«
»Warum, glauben Sie, ist er nicht zur Arbeit gekommen?«
»Fragen Sie mal was Leichteres. Ich war ein paarmal draußen bei seinem Hexenhäuschen. Aber wer war ausgeflogen? Monsieur Mir-geht’s-so-mies. Weiß der Geier, wo der sich rumgetrieben hat.«
Carla zog einen kleinen Block hervor und notierte sich, dass sich Nico Römer am letzten Montag krankgemeldet hatte und danach nicht mehr aufgetaucht war.
»Haben Sie miteinander telefoniert?«
»Zwei-, dreimal. Nico nimmt sich manchmal Computer zum Basteln mit nach Haus. Ich wollte wissen, wann er gedachte damit durch zu sein. Er meinte, ich soll mir keinen Kopf machen. Er würde sich schon darum kümmern.«
»Ist er normalerweise zuverlässig?«
»Nico? Aber so was von! – Sagen Sie: Warum fragen Sie das eigentlich alles? Was ist mit ihm?«
Carla ignorierte die Frage. »Wann haben Sie das letzte Mal telefoniert?«
Rapp sah in die Luft, während er angestrengt nachdachte.
»Dienstag … Mittwoch! Mittwochabend, so gegen sieben. – Aber jetzt sind Sie erst mal an der Reihe.«
Carla sammelte sich. Trotz ihrer Berufserfahrung scheute sie noch immer das Übermitteln von Todesbotschaften, selbst wenn überhaupt noch nicht klar war, ob es sich bei dem Toten tatsächlich um Nico Römer handelte. Es half ihr, sich an die Grundregeln des Angehörigengesprächs zu klammern. Eine Aussage in einem Satz. Nur das Nötigste. Dann das Gegenüber kommen lassen. Knapp die Fragen beantworten. Niemals mehr sagen, als wonach gefragt wurde.
Читать дальше