Nepo wies auf das erste Foto.
»Das hier ist der Schuh, den wir am Fundort der Skelette sicherstellen konnten. Er gehörte dem jüngeren der beiden Opfer. Und hier –«
»Moment!«, unterbrach Heinerle ihn. »Heißt das, dass dem Skelett die Schuhe ausgezogen wurden – also ich meine, als es noch lebte, das Skelett … also … der Mann von dem Skelett … als der noch lebte?«
»Also so ’ne blöde Frage! Hast du schon mal erlebt, dass ein Toter sich die Schuhe ausgezogen hat?«, schoss Bödele seinen Giftpfeil ab, noch bevor Nepo antworten konnte.
»Guntram, deine Witze werden immer peinlicher.«
»Und deine Logik immer dämlicher. Meine Güte, da zieht’s einem ja die Schuhe aus!«
»Schon gut, Schluss jetzt!«, intervenierte Querlinger. »Nepo, bitte, mach weiter.«
Hofzitzel hatte die Unterbrechung durch die beiden Streithammel mit stoischer Gelassenheit hingenommen. Heinerle und Bödele waren dafür bekannt, dass sie sich öfter zofften. Andererseits wusste jeder: Ging es ans Eingemachte und trat der absolute Ernstfall ein, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
»Ich komme zum zweiten Foto.« Nepo zeigte auf die Detailaufnahme mit der Ledersohle. »Diese Prägung hier auf dem Sohlengelenk …«
»Was für ein Gelenk?«, hakte Feigl nach.
»Sohlengelenk. So nennt man das mit dem Untergrund nicht in Berührung stehende Sohlenteil zwischen Absatz und Ballenauftrittsfläche.«
»Aha!«
»Also bei dieser Prägung hier – leider ist sie kaum als solche zu erkennen – könnte es sich um ein Logo oder ein Markenzeichen handeln. Vielleicht das Firmenzeichen des orthopädischen Schuhherstellers. Mal sehen, ob wir das mit dem Computer rekonstruieren können. Wenn nicht, schicken wir den Schuh zum LKA, die haben noch ganz andere technische Möglichkeiten. Sollte es sich tatsächlich um ein Logo handeln, könnte uns das ein gutes Stück weiterhelfen, zumal ein maßgefertigter orthopädischer Schuh nicht gerade zur Massenware zählt.«
»Na, dann hoffen wir mal, dass es sich tatsächlich um ein Logo oder eine Marke handelt. Wie sieht’s mit den anderen Beifunden aus?«
»Bedauere, Eugen. Weitere Ergebnisse haben wir noch nicht. Ist noch zu früh. Was das Fußkettchen mit dem Plastikanhänger angeht und die Kabelbinder, da werden wir schon noch ein paar Tage brauchen. Eventuell lassen wir auch die Granitbüste untersuchen, aber das wird man sehen müssen.«
Querlinger nickte. »Gut, ich denke, das war’s dann vorerst. Ich würde sagen, wir konzentrieren uns erst mal wie besprochen auf eventuelle Vermisstenfälle, so es welche gibt. Feigl, Zimmernagel, vielleicht könntet ihr euch mit dem K7 in Verbindung setzen. Und dann haben wir ja noch die Sache mit dem Brandanschlag in Ehingen am Hals. Versuchter Mord. Eulenburg, Zimmernagel, Bödele, wie weit seid ihr damit?«
»Ermittlungen stehen kurz vor dem Ende, Chef«, antwortete Janine von Eulenburg. »Wir haben den Besitzer von dem Elektroladen noch mal in die Mangel genommen, er hat endlich gestanden. Der Bericht geht morgen an den Staatsanwalt.«
»Beweislage?«
»Sonnenklar. Absolut wasserdicht, Chef.«
»Na dann, Herrschaften, vielen Dank. Das wär’s dann fürs Erste.«
Dienstag, 9. Juni
»Hau bloß ab, du segglbleeds Rindvieh, du segglbleeds! Deine saudomme Sprüch stecksch d’r am beschte ins Fiedle!«, schrie der Schmied Schorsch dem Mann hinterher, der soeben eine Zwanzig-Cent-Münze in seine Mütze hatte fallen lassen. In makelloses Hochdeutsch übersetzt lautete der zweite Teil der Aufforderung in etwa: »Deine dämlichen Sprüche lässt du am besten in deinem Allerwertesten verschwinden!«
In seiner umgedrehten Kappe hatte der Schmied Schorsch bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt drei Euro fünfzig liegen gehabt. Jetzt waren es nach Adam Riese drei Euro siebzig. Der Schmied Schorsch schnaubte vor Wut. Nicht wegen der mickrigen Einnahmen, die er in drei Stunden auf dem Münsterplatz mit Mundharmonikablasen erspielt hatte. Und auch nicht wegen der lächerlichen Zwanzig-Cent-Münze. Nein! Es war die Bemerkung, die der Mann zeitgleich mit dem Zwanzig-Cent-Stück hatte fallen lassen:
»Wie wär’s mal mit geregelter Arbeit, Penner?«
Dieser geschniegelte, im dunklen Anzug daherkommende Lackaffe! Wahrscheinlich ein Banker oder ein anderer staatlich subventionierter Wegelagerer, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, anderen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die gehörten doch alle über den Löffel balbiert, diese Mistsäcke. Über jemanden zu lästern, der sein Geld auf ehrliche Weise bei Wind und Wetter auf der Straße verdienen musste. Als Künstler. Als bester Mundharmonikaspieler im Umkreis von hundert Kilometern. Und dem das Geld trotzdem nicht reichte. Hinten und vorne nicht. Eigentlich wäre schon längst mal wieder ein Schlafsack fällig gewesen. Ein gesteppter und gut gefütterter. Aber woher den nehmen, wenn die Einnahmen aus den Open-Air-Solo-Konzerten immer weniger wurden, weil die allgemeine Bevölkerung Open-Air-Kulturschaffende immer weniger wertschätzte?
Eine Schulklasse formierte sich hämisch lachend um den Schorsch. Viert- oder Fünftklässler. Sie hatten die Zwanzig-Cent-Episode mitbekommen.
»Was gibt’s ’n so bleed zom Lache, ihr Deppen?«, fuhr Schorsch die Kinder an, die daraufhin schleunigst Reißaus nahmen. Er brummelte noch ein paar Verwünschungen in seinen verfilzten Bart und beschloss, in den Sack zu hauen und seinen Freund Berti Vogtländer aufzusuchen. Auf ernsthafte Mundharmonikamusikliebhaber brauchte er an diesem Vormittag eh nicht mehr zu hoffen. Da war es besser, erst einmal auszuspannen und sich in den Bretterverschlag unter der Promenadenbrücke zurückzuziehen, den er sich kürzlich gezimmert hatte. Selbstverständlich nicht ohne vorher die drei Euro siebzig in ein dringendes menschliches Bedürfnis investiert zu haben. Nein, nicht in Klopapier, in eine Flasche Rotwein natürlich. Die Promenadenbrücke – auf ihr verlief die Friedrich-Ebert-Straße – führte zwischen Xinedome und Busbahnhof über das Flüsschen Blau. Ein paar zugewucherte, vom Zahn der Zeit zernagte Stufen am Rand des Busbahnhofs führten hinunter zum Fluss, direkt unter das Bauwerk. Auf einem schmalen Betonstreifen, unmittelbar neben der Blau, hatte Schorsch seinen Unterschlupf errichtet. »Villa Blau« nannte er ihn. Der ideale Platz für einen Asphaltexistenzler, wie er einer war. Hier konnte er meditieren und in Ruhe lesen. Er war ein Vielleser, was man ihm, wenn man ihn so sah, nie zugetraut hätte. Er las alles, was ihm in die Finger kam – auch die Zeitung. Die besorgte er sich regelmäßig bei Berti Vogtländer, der in der Nähe des Busbahnhofs nicht nur einen Kiosk betrieb, sondern auch eine sehr soziale Ader besaß. Was ihn bewog, dem Schorsch einmal in der Woche den Südwestboten kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Eine halbe Stunde später radelte er mit seinem mit diversen Plastiktüten voll bepackten Stahlesel – Marke »Adler«, ein unverwüstliches Vorkriegsmodell – in Richtung Villa Blau. Dort, wo die Stufen begannen, die zum Flüsschen hinunterführten, stellte er ihn neben den Resten eines Mäuerchens ab. Zehn Minuten später saß er in seinem Verschlag auf einem ausgebauten Autositz. Vor sich auf einer zu einem Tisch umfunktionierten Europalette die Flasche Rotwein, ein Baguette und eine Dose Thunfisch nebst Geschirr und Besteck sowie eine blütenweiße Papierserviette – Schorsch legte Wert auf gepflegte Esskultur. Er rieb sich fröhlich die Hände und freute sich auf sein Mittagessen. Noch mehr freute er sich auf den Südwestboten. Nach dem Essen würde er ihn im Licht einer batteriegespeisten Werkstattlampe von vorne bis hinten durchlesen.
Die letzte Lektüre seines Lebens.
Mittwoch, 10. Juni
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