1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Heini riss seinen Arm nach oben. Herr-Lehrer-ich-weiß-was-Pose.
»Moment, Dr. Brenner, und wie steht’s mit der Radiokarbon-, also der C14-Methode? Die ist doch als verbindlich anerkannt.«
Mildes Lächeln auf der Miene des Rechtsmediziners, dem Mitleidsbonus geschuldet.
»Wenn Sie eine Erklärung dafür haben, wie ein Fußkettchen mit Plastikanhänger und eine mit rostfreiem Stahldraht umwickelte Granitbüste ins 16. Jahrhundert oder in die Antike oder gar in die Steinzeit gelangen konnten, stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu.«
Verhaltenes Lachen in der Runde.
Für Bödele die Gelegenheit. Was für ein Zufall, dass er erst gestern seinem Neffen bei den Hausaufgaben in Chemie geholfen hatte!
»Mensch, Heini, so ’ne blöde Frage. Die C14-Methode ist völlig ungeeignet für die Altersbestimmung von Knochen, die jünger sind als dreihundert Jahre. Das weiß doch jeder, der einigermaßen in der Schule aufgepasst hat.«
Eine Stunde später war Querlinger im Büro mit dem Unterzeichnen von diversen Anträgen, Berichten und der Durchsicht anderer Unterlagen beschäftigt, als es an der Tür klopfte.
»Herein! Hallo, Nepo, du? Nimm Platz! Was gibt’s?«
»Wir haben uns das Fußkettchen und den Sternzeichenanhänger vorgenommen. Beim Fußkettchen handelt es sich um eine 925er Legierung, also Sterlingsilber. Es muss sich ursprünglich um ein Kettchen ohne Anhänger gehandelt haben. Der ist, wie du weißt, aus Kunststoff und wurde einfach mit einem Nylonfaden an dem Kettchen befestigt.«
Nepo klappte sein Notebook auf, stellte es auf den Schreibtisch und betätigte die Tastatur.
»Das hier ist, wie du siehst, der Anhänger, der an dem Kettchen befestigt ist. Das ist die Öse, an der der Nylonfaden hängt. Wir haben im Internet nach Herstellern von Modeschmuck recherchiert. Der Anhänger ist Teil einer Serie, deren Produktion Anfang 1985 startete. Der Hersteller saß in der Schweiz und ging 1986, also ein Jahr später, in Konkurs. Das hier ist schon ewig lange nicht mehr bei uns zu haben.«
»1985 begann die Produktion?«, brummte Querlinger. »Das heißt, unsere Leichen könnten schon fünfunddreißig Jahre da unten gelegen haben!«
»Aber auch nicht länger. Womit die Frage nach der maximalen Liegezeit geklärt wäre«, bestätigte Hofzitzel.
»Und auch, wie weit zurück wir nach eventuellen Vermissten forschen müssen. Gute Arbeit, Nepo. Aber weißt du, was ich mich frage?«
»Sag’s mir.«
»Wie kann es sein, dass zwei im See versenkte Leichen über dreißig Jahre unentdeckt bleiben? Die Knochen lagen gerade mal dreieinhalb Meter unter der Oberfläche. Hast du dir mal das Wasser angesehen? Glasklar, du kannst bis auf den Grund schauen.«
»Also erstens: Das war nicht immer so, ich hab mich da schlaugemacht. Über Jahrzehnte hinweg, bis 2008, war der See Blaualgenbefall ausgesetzt, das Gewässer war eine einzige eklige Algenbrühe. Bei Blaualgen ist vom Grund nichts mehr zu sehen. Dann kam es im Sommer 2008 zu einem wochenlangen Fischsterben, schuld daran war ein Bakterium. Die Leichen wurden mitten im See versenkt, dort, wo er am tiefsten ist, wahrscheinlich zwischen Mitte und Ende der achtziger Jahre. Ergo vergingen Jahrzehnte, in denen sie vor sich hin skelettieren konnten. Zweitens: Der Grund ist sumpfig. Die Knochen steckten von Schlick überzogen im Schlamm, die kannst du nicht so ohne Weiteres als solche erkennen. Und drittens: Auf dem See herrscht kein regelmäßiger Bootsverkehr. Hier haben wir ein ausgedehntes Naturschutzreservat. Seit vielen Jahren ist das Fahren auf dem See nur in bestimmten Bereichen erlaubt, ansonsten ist er für die Öffentlichkeit gesperrt. Und nur in einigen wenigen, genau gekennzeichneten Bereichen darf geangelt und gebadet werden.«
»Verstehe. Das erklärt einiges. Andere Frage: Was ist mit dem Schuh? Gibt’s da schon Ergebnisse?«
»Nein, wir konnten das Logo oder die Inschrift oder was auch immer nicht verifizieren. Der Schuh ist beim LKA. Sollen die sich damit rumschlagen, die haben da andere technische Möglichkeiten.«
Zwanzig Minuten später – Nepo war schon gegangen – saßen Querlinger Janine von Eulenburg und Armin Feigl gegenüber. Der Kommissar hatte sie soeben über die neuen Erkenntnisse bezüglich des Sternzeichenanhängers informiert.
»Maximale Liegezeit fünfunddreißig Jahre – puh, ganz schön lange!«, bemerkte Feigl.
»Wie sieht’s mit den Recherchen zu eventuellen Vermissten aus, Armin? Sind wir da schon weiter?«, wandte sich Eulenburg an Feigl.
»Die Kollegen vom K7 haben erst gestern damit angefangen, aber wenn’s überhaupt welche gibt, dürfte es sich um eine überschaubare Anzahl handeln.«
»So seh ich das auch«, meinte Querlinger. »Vielleicht könnten du und der Armin mal recherchieren, welche Schmuckgeschäfte, Händler, Großhändler und so weiter seinerzeit mit diesem Sternzeichenanhänger beliefert worden sind.«
Samstag, 13. Juni
Es ging auf ein Uhr dreißig zu. Nächtliche Stille hatte sich wie ein dicker Teppich über die Ulmer Innenstadt gebreitet und schluckte sämtliche Geräusche. Nur unter der Promenadenbrücke hatte der Teppich ein Loch, von dort drangen Lärm und der schwache Schein einer batteriegespeisten Werkstattlampe nach oben. Zwei in der Ulmer Asphaltexistenzlerszene bekannte Persönlichkeiten führten gerade einen lautstarken Disput über ein Thema, das unter männlichen Asphaltexistenzlern seit dem Turmbau zu Babel – dort wurde bereits Asphalt verwendet – immer wieder zu heftigen Kontroversen Anlass gab: Frauen!
»Halt dei bleede Gosch, Zigeiner, dreckerter, gell! Sonscht kriegsch oine aufs Maul, dass d’ nimmer woisch, wie d’ hoisch. Des isch nicht deine Anni, des isch meine Anni! Im Juli geh ich mit meiner Anni aufs Volksfescht, dass des klar isch! Aber vorher fahr ich mit ihr in Urlaub. An den Vierwaldstättersee.«
»Trau dich bloß, Schofseggel, miserabliger«, rief der »Zigeiner« und schlug dem Schofseggel die Faust zuerst ins Gesicht und dann in den Magen.
Der Schofseggel krümmte sich, hielt sich mit beiden Händen den Bauch und stöhnte. Aber nur kurz, das Stöhnen war mehr als Finte gedacht, wie der listige Blick von unten herauf verriet. Schon wähnte sich der »Zigeiner« als Sieger, als der Schofseggel urplötzlich seinen Oberkörper hoch und nach vorne schnellen ließ, wobei er seinen Schädel als Rammbock gegen das Kinn des »Zigeiners« einsetzte.
Der kippte nach hinten weg und blieb bewusstlos liegen.
»Reschpekt, des hot gsesse«, murmelte der Schofseggel, er war sichtlich stolz auf sich.
»Du bleibsch künftig weg von meiner Anni«, knurrte er, ließ sich an der Seite des Bewusstlosen nieder und zog ihm einen Uraltgeldbeutel aus der Tasche. »Der isch ja von anno Tobak«, grummelte er. Er öffnete ihn, sah kurz hinein und nickte befriedigt. »Hauptsach, des, was drin isch, passt. Super Urlaubsgeld«, meinte er und ließ ihn in seine Tasche gleiten.
Dann verließ er den Ort des Geschehens unter der Promenadenbrücke, das Loch im Teppich der Stille schloss sich, wohltuende Ruhe breitete sich unter der Brücke aus.
Hätte der obdachlose, ursprünglich aus Dortmund stammende Karl Dobler, seiner mächtigen Nase wegen auch »Zinken-Karle« genannt, in dieser Nacht nicht ein dringendes menschliches Bedürfnis verspürt – nein, nicht nach einer Flasche Rotwein –, wahrscheinlich wäre die Szene unter der Ulmer Promenadenbrücke völlig dem Dunkel der Geschichte anheimgefallen. So aber wurde Zinken-Karle, gleich nachdem er sich hinter einem Mäuerchen oberhalb der Steinstufen, die unter die Brücke zur Blau führten, erleichtert hatte, unfreiwillig Zeuge der nächtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Zigeiner und dem Schofseggel. Wenn auch nur akustisch. Es gelang ihm gerade noch, sich rechtzeitig hinter das Mäuerchen zu ducken, bevor sein Obdachlosenkollege Sepp Möhnle, der Schofseggel, auch als Stinker-Sepp bekannt – er hatte eine Schwäche für Weißlacker-Käse mit Zwiebeln –, das Treppchen hinauf- und in Richtung Busbahnhof davonhastete.
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