Diese Arbeit will den gesellschaftlichen Wandel anhand der Stimme und des Sprechstils beim Werbeträger Hörfunk in Westdeutschland über drei Jahrzehnte rekonstruieren, wobei das RAWRAW als Quelle für das Korpus dient (Untersuchungsobjekte sind digitalisierte Rundfunk-Werbespots). Ein breit angelegtes Online-Experiment mit Ausschnitten dieser Spots soll ihre Stimm- und Sprechwirkung heute erfassen. Beim Vorgehen stehen als Forschungsziele folgende zwei Fragenkomplexe im Mittelpunkt der Analysen:
1 Welche PersuasionsstrategienPersuasionsstrategien, Themen und Topoi werden seit den 1950er Jahren in der Hörfunkwerbung eingesetzt, und wie werden sie von Stimme und Sprechweise aufgenommen?
2 Wie nehmen heutige Hörerinnen und Hörer Stimme und Sprechweise in der Hörfunkwerbung seit den 1950er Jahren wahr?
Nachdem zunächst in diesem ersten Kapitel der Untersuchungsgegenstand umrissen wurde, widmet sich das zweite Kapitel einem Überblick über die Geschichte des Radios und der Rundfunkwerbung bis zu den 1950er Jahren. In einem Exkurs über das Medium Hörfunk in der Werbung (2.1) geht es sowohl um den Wandel der Technik als auch um den Wandel der HörgewohnheitenHörgewohnheiten. Dem folgen grundlegende Gedanken zum Thema Medienrhetorik als Form von Wirtschaftsrhetorik (2.2) und Radiorhetorik (2.3). Ein Blick auf Persuasionsstrategien in der Hörfunkwerbung (2.4) schließt das zweite Kapitel mit einem Exkurs in die antike Rhetorik ab.
Im dritten Kapitel stehen Stimme und Sprechstil im Fokus. Nach allgemeinen Reflexionen über VortragsformateVortragsformate und SprechkunstSprechkunst (3.1) geht es um die ästhetische Dimension von Stimme und Sprechstil (3.2), wobei der Ästhetik der FrauenstimmeÄsthetikder Frauenstimme ein eigener Abschnitt gewidmet ist (3.3). Die Aussprache selbst ist ebenfalls Moden und Normierungen unterworfen, was in Abschnitt 3.4 zur Sprache kommt.
Ein historischer Rückblick auf die Zeit ab den 1950er Jahren hat im vierten Kapitel nicht nur zum Ziel, markante politische und gesellschaftliche Ereignisse wachzurufen, sondern auch die jeweiligen Moden und Trends aufzuzeigen, von denen sich die Konsumenten der jeweiligen Zeiträume angesprochen fühlten (4.1). Das so skizzierte Gesellschaftsbild gibt Zeugnis ab über den Bedürfniswandel der Zeit, der sich in den Themen (und damit auch in den mit dem Produkt angebotenen Zusatznutzen) bei Produktwerbungen niederschlägt (4.2).
Im fünften Kapitel werden exemplarisch Hörfunk-Werbespots der 1950er, 1960er und 1970er Jahre für eine Analyse im Rahmen eines triangulären Untersuchungsdesigns herangezogen und einigen Spots aus den 1980er und den 2010er Jahren gegenübergestellt. Es handelt sich um Produktwerbungen aus drei Bereichen: Haushaltshygiene (Waschmittel), Körperhygiene (Zahnpasta) und Genuss (Kaffee). Die Ergebnisse eines Online-Experiments mit einer Expertenumfrage sollen, zusammen mit einer hörphonetischen Deskription und Interpretation und der akustischen Berechnung des Parameters mean pitch Mean pitch mit Hilfe der Software PraatPraat Aussagen zu den oben genannten Forschungszielen zulassen. So kann der gesellschaftliche Wandel in der Stimme, im Sprechstil und in der WerberhetorikRhetorikWerbe- exemplarisch aufgezeigt werden. Durch die sprechwissenschaftlich-phonetische Charakterisierung der männlichen und weiblichen Sprechstimmen kann auf die Frage nach der Stimme als Zeitzeugin in der Verkaufsrhetorik geantwortet werden.
Im Anhang befinden sich die analysierten Werbespots in Form von orthographischen TranskriptionenTranskriptorthographisches6 mit jeweiliger GAT 2TranskriptGAT 2-Transkription (mit Hilfe des Editors FOLKER). Das garantiert zum einen die Transparenz der Untersuchung und ermöglicht einen Nachvollzug ihrer Aussagen. Zum anderen sollen die Interpretation und Schlussfolgerungen als Einladung zu weiteren Analysen verstanden werden.
Schließlich soll im Rahmen einer Begriffsdefinition auf die Verwendung der zentralen Termini „Thema“, „Topos“, „Zusatznutzen“ und „USP“ hingewiesen werden:
Thema Thema wird hier auch im Zusammenhang mit GrundnutzenGrundnutzen und Zusatznutzen verwendet (siehe unten), außer die Begriffe werden differenziert gebraucht.7 Statt Thema könnte in vielen Fällen der Terminus „Werbebotschaft“, „Inhalt“, „Gegenstand“ oder „Motiv“ stehen.
In der Alltagskommunikation verhaftet ist der Topos Topos: „Da der T.[opos] auf alltagslogischen Denkmustern oder konventionellem Erfahrungswissen beruht, hat er auch bei routinemäßigem Gebrauch Überzeugungskraft“ (Bußmann, 2008, S. 745). Auf Topoi entwickelt sich Argumentation, beispielsweise in Form von Kausalschlüssen (z.B. Persil 1973: mit der roten Schleife ; ein Paket mit Schleife erinnert an ein Geschenk, an etwas Besonderes) oder bei dem in der Werbung beliebten Topos der Autorität, der sog. Testimonialwerbung (beispielsweise die zufriedene Kundin in Lenor 2018: Ich fühle mich wohl in Lenor ).8
Der Zusatznutzen Zusatznutzen wird ergänzend zum Grundnutzen (dem jeweiligen Gebrauchswert, dem rationalen Grund) eines Produktes verkauft; hiermit bezwecken die Anbieter, weitere Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen (z.B. emotionale Bedürfnisse in Form eines Glücksgefühls, soziale Bedürfnisse in Form von Anerkennung, Schönheit, Selbstbestätigung). Spang (1987, S. 75) nennt es auch die „produktfremden scheinbaren Sekundärleistungen“.
Mit Hilfe des Zusatznutzens kann ein Alleinstellungsmerkmal bzw. ein herausragendes Leistungsmerkmal erzeugt werden, das das Produkt gegenüber anderen differenziert, unter der Konkurrenz heraushebt und einen veritablen Kundenvorteil darstellt. Man spricht dann auch von USP ( unique selling point oder unique selling proposition .USPunique selling point/proposition Zusatznutzen und USP sind sehr eng miteinander verwoben und werden häufig gleich gesetzt:
[der produktspezifische Zusatznutzen] wird von Werbefachleuten USP ( unique selling proposition – „einzigartige Verkaufsaussage“) genannt. Über die USP/den Zusatznutzen versucht die Werbung das Problem der zunehmenden Produktähnlichkeit zu umgehen und auf irgendeine Weise das beworbene Produkt gegen Konkurrenzprodukte abzugrenzen, auch wenn kaum mehr tatsächliche Unterschiede vorhanden sind. (Janich, 2013, S. 56)
Ein AlleinstellungsmerkmalAlleinstellungsmerkmal wird regelmäßig einen Zusatznutzen auslösen, also eine Art Befriedigung eines Bedürfnisses (z.B. bei THOMY Senf, der in einem ansprechenden Glas verkauft wird, das als Trinkglas benutzt werden kann, was ihn wiederum von anderen Senf-Produkten abhebt). Aber der Zusatznutzen muss nicht zwingend zu einem USPUSP führen, vor allem, wenn das Merkmal keine Alleinstellung hat. Für die Verkaufsstrategien in der Werbung handelt es sich zwar um zwei Argumentationskonzepte, die aber so eng miteinander verwandt sind, dass die Unterschiede der beiden Begriffe auch in der vorliegenden Untersuchung vernachlässigt werden können. Daher sollen die beiden Begriffe im weiteren Verlauf der Arbeit gleichrangig nebeneinander verwendet werden.
2 Radio und Rundfunkwerbung gestern und heute
Wenn von Radio, Rundfunk und Hörfunk die Rede ist, so werden diese Begriffe oft synonym verwendet, bisweilen jedoch auch differenziert verstanden: Radio als Empfangsgerät, Hörfunk als das gesendete Programm. Vor der Zeit des Fernsehens, waren wiederum Rundfunk und Hörfunk als das gleiche verstanden worden, heute umfasst Rundfunk strenggenommen sowohl Hörfunk als auch Fernsehen, wird aber dennoch meist synonym für den Hörfunk verwendet.1
Werbung fand schon einen Platz im Hörfunk, als dieser noch in Kinderschuhen steckte, also kurz nach 1900. Vorreiter der Rundfunk-Unterhaltungsindustrie waren die USA und die Niederlande, bald konnte man nach ersten vorbereitenden Schritten und dem Aufbau von Telefunkengroßstationen in den Jahren zwischen 1910 und 1920 auch in Deutschland die erste Rundfunkübertragung hören (am 29. Oktober 1923). Ein kurzer Abriss über die rasante Entwicklung der Radionutzung in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts soll den Rahmen stecken für die spätere Analyse der Werbespots.2
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