Die nationale Vereinnahmung Gottes im Sinne der Bitte um Gottes Hilfe in der kriegerischen Auseinandersetzung ist freilich eine Sache, die heilsgeschichtliche Deutung von Kriegsglück aber eine andere.
Ich führe hier nur eine derart legitimierende Stimme an: Im September 1914 hieß es in der Fuldaer Zeitung : „Der Allmächtige hat unsere Truppen von Sieg zu Sieg geführt, all unseren Feinden hat er offenbar gemacht, daß er mit der gerechten Sache ist und mit dem Volk, das in Demut um seinen Schutz und Segen fleht“ 66. – Im Umkehrschluss hätte dieses Argumentationsmuster, spätestens 1918, bedeutet: die deutsche Sache war eben doch nicht die gerechte Sache und schon gar nicht die Sache Gottes, denn der Sieg war auf Seiten des Gegners.
Dieser logische Rückschluss wurde freilich nicht gezogen. Stattdessen finden sich selbst noch im Juli 1918 Spuren desselben Musters, wenn sie auch nicht mehr ganz so vollmundig klingen: Gottes Wille habe zumindest den Krieg „vom Boden unseres Vaterlandes, von seinen Fluren, Städten und Dörfern fern gehalten“ 67.
Hier offenbart sich eine primitive Pseudotheologie, die in weiten katholischen Kreisen bis hin zu höchsten kirchlichen Würdenträgern zu finden war. Man hätte 1918 ja auch mit ganz anderen Interpretamenten argumentieren können. Etwa mit biblischen Aussagen wie: „Der Gerechte muß viel leiden“ (Ps 34,20), oder: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er“ (Spr 3,12). Solche Dinge sucht man in diesem Zusammenhang jedoch vergebens.
Allerdings, und damit komme ich zur verbreitetsten Rechtfertigung des Krieges, wurde der Krieg als Instrument der Strafe, der Züchtigung, der Erziehung Gottes interpretiert – bezeichnenderweise aber nicht auf eine – deshalb – zu erwartende kriegerische Niederlage bezogen.
Krieg als Gottesstrafe und Aufruf zur Läuterung
Dort, wo dem Krieg – neben der prinzipiell negativen Erfahrung des Leids – eine positive religiös-sittliche Dimension abgerungen wurde, traten die Motive der Läuterung und Buße sowie des „Opfers“ auf 68.
Der Krieg sei eine Prüfung, „die Gott will, die zu Gott führt“ 69. Ein Freiburger Pfarrer formulierte das so: „Nur der Schmerz und das Leid weiß ja das Edelste und Tiefste im Menschen zu erlösen und zu befreien“ 70. Erhofft wurde also – frei nach dem Motto: „Not lehrt beten“ – eine neue Hinwendung zu Gott, zum Glauben, zur Kirche. Der erkannte Sinn des Krieges war, jene, die sich vom Glauben abgewandt haben, zurückzuführen, jenen aber, die glaubten, die Gelegenheit zur Bewährung zu geben. In der Kölnischen Volkszeitung schrieb ein Pfarrer im September 1914: „Der Ruf des Kaisers an die wehrfähigen Männer Deutschlands bedeutete für das katholische Volk in Wahrheit zunächst eine Herzensmobilmachung “ 71. So wurde der Krieg in katholischen Verlautbarungen allenthalben legitimiert.
Die Antwort, weshalb eine Läuterung überhaupt nötig sei, lautete: Wohlstand und Kultur, der Genuss der irdischen Güter, Eigenliebe und Stolz haben die Werteordnung vertauscht und Gott als das höchste Gut überlagert. So hieß in einem Zeitungsartikel:
„Woher nun der Krieg? Von der Verkehrtheit der Menschen sagst du. Freilich, darin liegt die nächste Ursache. […] Mitten hinein in den immer mehr zunehmenden Unglauben und den Abfall von der Kirche und dem Christentum, mitten hinein in die hochgehenden Fluten der Sittenlosigkeit, die weite Kreise und Schichten der menschl. Gesellschaft erfaßt hat, schwingt der gerechte Gott die Zuchtrute. […] Der maßlose Aufwand, der unsinnige Luxus, die alle Schranken niederreißende Genußsucht, der sittliche Verfall, wie er sich in der wachsenden Häufigkeit der Ehescheidungen, dem Geburtenrückgang, der horrenden Zunahme der öffentlichen Unsittlichkeit kundgab, vor allem der religiöse Niedergang, der weiteste Kreise des deutschen Volkes in seinen unheilvollen Bann gezogen hatte, das, und viele andere Verfallserscheinungen, die das Schlimmste befürchten ließen“ 72.
Auch die deutschen Bischöfe sahen in ihrem gemeinsamen Kriegshirtenbrief „eine ihrem ganzen Wese nach unchristliche, undeutsche und ungesunde Überkultur mit ihrem äußeren Firnis und ihrer inneren Fäulnis, mit ihrer rohen Geldsucht und Genußsucht, mit ihrem ebenso anmaßenden wie lächerlichen Übermenschentum, mit ihrem ehrlosen Nachäffen einer fremdländischen [gemeint war die französische], verseuchten Literatur und Kunst und auch der schändlichsten Auswüchse der Frauenmode“ mitverantwortlich für den Krieg, den Gott nun als „Kriegsgericht“ über die „gottfeindlichen, irreligiösen, ungläubigen und unsittlichen Weltmächte“ hereinbrechen lasse 73. Hier artikulierte sich noch einmal der Kulturpessimismus des katholischen Antimodernismus. Interessant ist, dass die Schuld zwar generalisierend für alle artikuliert, aber dennoch individualisiert wurde. Demgegenüber wurde bei gleicher Interpretation in Frankreich die Schuld kollektiv und strukturell gesehen, und auf den Staat bzw. den Laizismus bezogen.
Es waren vor allem die Bischöfe, die in ihren Hirtenbriefen „ein schwarzes Sittengemälde“ insbesondere der modischen Kultur, des Eheverständnisses und der Sexualität zeichneten. Es wurde also nicht zuerst der Krieg für den Niedergang der Moral verantwortlich gemacht, sondern andersherum: Weil die Menschen von Glaube und Sitte abgekommen waren, strafte Gott sie mit Krieg.
Die Perversion oder zumindest die Aporie einer solchen Kriegsdeutung brachte ein Soldat 1917 zum Ausdruck, als er schrieb:
„Etwas ironisch klang mal ein Artikel, wo dieser Krieg als eine Geißel, als furchtbare Strafe für die sündige Menschheit hingestellt wurde. Natürlich hat die Menschheit vor dem Kriege gesündigt. Aber ich frage: wann wurde mehr gesündigt, vor dem Krieg oder während dem Kriege? Ganz entschieden wurde nie mehr gesündigt als gerade in diesem unheilvollen Kriege. Mit welcher Geißel werden denn diese Sünden gestraft?“ 74
Freilich gab es auch theologisch vorsichtigere Stimmen. Nach den enormen menschlichen Verlusten an der West- und der Ostfront meinte zum Beispiel der Fuldaer Bonifatiusbote im Herbst 1915, das Argument, Gott wolle den Krieg, sei zu relativieren:
„Gott hat den Krieg nicht gewollt, er will auch nicht, daß derselbe so lange fortdauere. […] Aber dieser große, unendliche Gott hat dem Menschen einen freien Willen gegeben. […] Man bleibe also uns fern mit der gedankenlosen Phrase, der Krieg komme von Gott oder wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann müßte das Morden ein Ende haben. Wenn die Engländer erklären, wir geben nicht nach und wir wollen keinen Frieden, wenn Frankreich erklärt, bis zum endgültigen Siege dulden wir nicht, daß man vom Frieden spreche, wenn Rußland trotz seiner ungeheuren Niederlagen sich immer noch als halber Sieger wähnt, […] dann leuchtet jedem vernünftigen Menschen ein, daß der Herrgott im Himmel mit der längeren Dauer des Krieges nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“ 75. – Eine selbstkritische Stimme, die aber doch eher eine Ausnahme zu sein scheint!
Die katholische Deutung des Krieges als „Appell zu Buße und Sühne“, als „Strafgericht Gottes über die sündige Menschheit“ und als „Anruf, die Tugenden der Christen zu bewähren“ 76wurde allerdings lange Zeit beibehalten 77. Sie wurde übrigens auch eingesetzt, um sich gegen die Feinde abzugrenzen, so wenn von der „Pariser Sitte“ die Rede war 78.
Möglicherweise war diese Deutung allerdings auch eine Folge der Erfahrung des Kriegsbeginns, als es in ganz Deutschland zu einem großen Ansturm auf die Kirchen kam. Die Zahl der Taufen nahm sprunghaft zu, die Gottesdienste waren vielbesucht, die Sakramente wurden bewusst empfangen 79. Auch wenn dieser „Massenandrang der Soldaten“, aber auch der Zivilisten, nicht unbedingt einen religiösen Ursprung gehabt haben muss 80, legte sich die geschilderte Deutung doch nahe. Die Frage ist, wie in diesem Zusammenhang das bereits in den ersten Kriegsmonaten deutliche Nachlassen religiöser Betätigung der Soldaten, aber auch die Rückkehr der Daheimgebliebenen zu einem „religiösen Routineverhalten“ zu deuten ist. Als Beweis für den nichtreligiösen Ursprung des ersten Andrangs, also im Sinne eines „Akts der Vergemeinschaftung in der Unsicherheit und der Bedrohung“, oder als Beleg für eine rasche Verrohung der Soldaten unter den unmittelbaren Eindrücken des Krieges? Oder wurde die theologische Legitimierung des Krieges einfach zunehmend als „falsch“ erkannt und entlarvt? Schwand also im Zuge der Manifestation des Krieges als Dauerzustand das „Vertrauen in die göttliche Vorsehung“? Es wird wohl das eine wie das andere stimmen. Die zunehmenden Klagen über den sittlichen Verfall, sowohl zuhause bei den zurückgebliebenen Frauen, als auch bei den Soldaten im Feld, zeigen jedenfalls nicht nur, dass alle (vielleicht auch nur zweckoptimistischen) Hoffnungen des Klerus auf eine religiössittliche Erneuerung enttäuscht wurden, sondern dass auch die daran geknüpfte Kriegstheologie absurde Züge aufwies.
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