Sonja Pöllabauer / Mira Kadrić
Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext
Translationskultur(en) im DACH-Raum
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ISBN 978-3-8233-8352-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0263-6 (ePub)
Einleitung: Berufssoziologische Dimensionen einer Translationskultur
Sonja Pöllabauer
Dieser Sammelband, zu dem verschiedene Expert:innen aus dem DACH1-Raum beigetragen haben, zeigt vor dem Hintergrund des Konzepts der „Translationskultur“ (Prunč 1997, 2008) sowie professionssoziologischer Überlegungen „Entwicklungslinien“ (Prunč 2012a) des Dolmetschens in einem gesellschaftlichen und behördlichen Umfeld im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.2
1 Verständigung in verschiedenen Lebensrealitäten
Der Ausgangspunkt für dolmetscherisches Handeln ist das Erfordernis aufseiten von Bedarfsträger:innen in verschiedenen Lebensrealitäten Verständigung zu ermöglichen, was manchmal nur unter Beiziehung von Dolmetscher:innen realisierbar ist. Derartiger „Kommunikationsbedarf“ (Pöchhacker 2000:13f.) bestand seit jeher in verschiedenen internationalen oder innergesellschaftlichen Zusammenhängen. Ein Blick auf translatorisches Handeln aus gegenwärtiger Perspektive vernachlässigt häufig die Tatsache, dass die Tätigkeit von Dolmetscher:innen eine alte ist und sich über ein weites zeitliches Kontinuum erstreckt, und dass jene Faktoren, die für Dolmetscher:innen heute maßgebende Kriterien für ihr Handeln sind, Dolmetscher:innen wohl auch schon vor Jahrtausenden beschäftigten. Abseits der Aufarbeitung dieses Feldes in der Fachliteratur belegen etwa geschichtliche Quellen die jahrhundertelange Tätigkeit von Dolmetscher:innen in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (z.B. Woodsworth & Delisle 2012, Cáceres Würsig 2017).
Seit der innerstaatlichen Krise in Syrien, die ab 2015 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und darüber hinaus zu massiven Fluchtbewegungen in Richtung Europa führte, waren Dolmetscher:innen und ihr Handeln zunehmend sowohl durch Medienberichte als auch infolge persönlicher Begegnungen in Kontexten präsent, in denen dies zuvor nicht der Fall gewesen war. Im deutschsprachigen Raum waren v.a. Deutschland und Österreich mit einem plötzlich angestiegenen KommunikationsbedarfDolmetschbedarfmigrationsbedingt konfrontiert, der nicht immer ausreichend gedeckt werden konnte. Dringlichkeit und Ausmaß an Kommunikationsbedarf führten dazu, dass die Notwendigkeit des Einbezugs von Dolmetscher:innen verstärkt erkannt wurde.
Infolge dessen und zur weiteren Bewältigung dieser veränderten gesellschaftspolitischen Gesamtsituation wurden verschiedene (Ad-hoc-)Maßnahmen zur Bewältigung dieses Kommunikationsbedarfs ergriffen, u.a. die Bestellung von Dolmetscher:innen für bislang wenig benötigte Sprachkombinationen, für die auch keine Ausbildungen existieren, neue Verzeichnisse („DolmetscherlistenDolmetschliste“) und Zusammenschlüsse („PoolsDolmetschpool“) von Dolmetscher:innen, Entwicklung neuer Schulungsmaßnahmen oder die Reaktivierung bereits bestehender Qualifizierungsangebote. „Qualität“ stand dabei nicht immer im Zentrum; vielmehr wurde und wird – wie die Beiträge in diesem Band in teilweise ernüchternder Form belegen – der Dolmetschbedarf häufig unter der nach wie vor tradierten Devise „Sprachkompetenz = Dolmetschkompetenz“ gedeckt. Die aus fachlicher Sicht grundsätzlich positiv zu wertende Sichtbarmachung von Dolmetscher:innen ist also gleichzeitig teilweise negativ gekoppelt an eine gewisse Gefahr einer Institutionalisierung von „Ad-hoc-Lösungen“.
Zu beobachten war in den letzten Jahrzehnten des Weiteren ein Neuaufflammen der Diskussion um die Benennung der Tätigkeit von Dolmetscher:innen in einem derartigen innergesellschaftlichen Lebenszusammenhang, wie sie bereits Ende der 1990er-Jahre (z.B. Bahadır 2000, Pöchhacker 2000:34ff., Pöllabauer 2002) und auf ähnliche Weise noch früher in den sogenannten Pionierländern des Community InterpretingCommunity Interpreting (z.B. Roberts 1997, Gentile 1993) stattgefunden hatte. Augenscheinlich war diese Diskussion etwa im Rahmen einer Fachtagung 2018 am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg, die der Qualifizierung von Sprachmittler:innen in der sozialen Arbeit gewidmet war (vgl. ZwischenSprachen 2018) und in teilweise heftige Kontroversen zu den Möglichkeiten, Sinnhaftigkeiten und Widersinnigkeiten verschiedener Benennungen mündete.
2 Tradition der Sprachmittlung
Der subjektive Eindruck, der vor diesem Hintergrund entstehen könnte, wonach das Dolmetschen in einem innergesellschaftlichen Kontext im DACH-Raum erst in den letzten Jahren vermehrt notwendig geworden ist, trügt allerdings. Dieses spezifische Handlungsfeld von Dolmetscher:innen findet bereits seit mehr als 20 Jahren unter dem Stichwort Community Interpreting Community Interpretingoder anderen dafür gebräuchlichen Benennungen Eingang in die einschlägige (auch deutschsprachige) Literatur, anfangs eher in Form von Darstellungen subjektiven Charakters, später mit einer Entwicklung hin zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Themas (vgl. Grbić & Pöllabauer 2008).
Mit Bezug auf Deutschland thematisierten etwa bereits Mitte der 1980er-Jahre Rehbein (1985) „Verfahren der Sprachmittlung“ sowie Knapp (1986) und Knapp & Knapp-Potthoff (1985, 1986, 1987) verschiedene Aspekte der „Sprachmittlung“, die sie als „nicht professionelle, alltagspraktische Tätigkeit“ in „face-to-face-Interaktionen“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1985:451) definierten und so vom (professionellen) „Dolmetschen“ abgrenzten.
Insgesamt ist die Literatur zur Thematik durch eine interdisziplinäre Perspektive gekennzeichnet. Frühe Publikationen, v.a. aus Deutschland und der Schweiz, gehen v.a. auf Autor:innen aus den Bereichen der Psychiatrie und Psychotherapie (Knoll & Roeder 1988, Leyer 1988, Haenel 1997, Westermeyer 1990, Grube 1993, Steiner 1997) bzw. der Medizin (Flubacher 1994, Eytan, Bischoff & Loutan 1999, Bischoff et al. 1999) zurück. Der allgemeine Paradigmenwechsel in der Dolmetschwissenschaft hin zu einer „sozialen Wende“ (Pöchhacker 2006) und einem intensivierten Blick auf dialogische bzw. „triadische“ (Wadensjö 1998, Mason 2001) Interaktionskonstellationen ab den 1990er-Jahren zeigt sich auch im DACH-Raum, wo ab 2000 ein Anstieg an Publikationen zum Thema zu beobachten war (Grbić & Pöllabauer 2008).
In der Schweiz befassten sich etwa Kälin (1986) und Monnier (1995) früh mit dem Dolmetschen im Asylverfahren. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Publikationen aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich erwiesen sich hier v.a. die Universitätskliniken in Basel und Genf (HUG, Hôpitaux universitaires de Genève) als Zentren der Forschung zum Medizindolmetschen. Bereits 1999 wurde auch der Schweizer Berufsverband INTERPRET gegründet, der bis dato im DACH-Raum immer noch einzige spezifische Berufsverband für Dolmetschen in einem sozialen Kontext (siehe dazu auch Müller in diesem Band). Gar noch früher wurden erste Dolmetschdienste an Kliniken (1987 Basel, 1990 Bern) sowie von gemeinnützigen oder kirchlichen Organisationen eingerichtet (z.B. Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz HEKS, Schweizer-Arbeiter-Hilfswerk SAH, Caritas, Rotes Kreuz) (vgl. Flubacher 2013:128, siehe dazu auch Grenko & Strebel in diesem Band). Maßgebend, auch für die Benennung dieses Feldes in der Schweiz (Interkulturelles Übersetzen bzw. Interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln), scheint ein Sammelband von Weiss & Stuker (1998) mit dem Titel Übersetzung und Interkulturelle Mediation .
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