Abb. 1: Besuch des deutschen Bundespräsidenten 18.11.2006. © Bild: Stefano Spaziani
Abb. 2: https://www.nzz.ch/panorama/bild-strecke/die-kleider-des-papstes-1.18016235#lg=1&slide=4 © Bild: Keystone/AP
Inhalt
inspiration
Heft 2.20 · Macht
Editorial
Sr. M. Ancilla Röttger osc
Vertraut mit dem Fremden
Zuzanna Flisowska
Ermächtigung und Empowerment
Sr. Dr. Katharina Ganz OSF
Anders-Macht
Dr. Jennifer Wenner
Katharina von Siena – weibliche Zugänge zur Spiritualität in Zeiten der Krise
Ein Gespräch mit Marion Lammering
Seelsorge und Spiritualität in der spontanen Diaspora
Rudolf Hein
Ästhetik der Macht
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Welt ist durcheinandergewürfelt worden, irgendwie befanden wir uns zu dem Zeitpunkt, als dieses Heft redigiert wurde, in einer Art Zwangspause vom Alltag. Und auch wieder nicht – denn das Leben muss ja irgendwie weitergehen. Und so sitze auch ich im Homeoffice und jongliere zwischen dem Beruf und dem neuen Alltag mit meinen Kindern, die von zu Hause aus Schule haben sollen.
Wie passend ist da das Thema dieses Heftes, das wir zugegebener Maßen schon letztes Jahr festgelegt hatten. Da sich aber Macht (wie auch Ohnmacht) in dieser Zeit nochmal ganz anders präsentiert, haben wir auch einen spontanen Zwischenruf eingefügt, der ein Schlaglicht auf die Spiritualität des Alltags in der Zeit der Coronapandemie wirft.
Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe beziehen diese außergewöhnliche Zeit auf die ein oder andere Weise mit ein – das Fremde, dem wir momentan ausgesetzt sind, spielt ebenso eine Rolle in den Beiträgen dieses Heftes, wie auch die Möglichkeit zum Empowerment und Macht anders zu leben. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie Frauen als Nichtmächtige ihrer Zeit trotzdem öffentlichkeitswirksam Kirche und Leben gestaltet haben und ein kleiner Blick in die Gegenwart erlaubt die Faszination in der Krise zu finden.
Inspirierende Zeit mit dieser Ausgabe wünscht Ihnen,
Clarissa Vilain
Sr. M. Ancilla Röttger osc
Vertraut mit dem Fremden
Geistliche Begleitung
Fremdheit stürzt uns schnell in Ohnmacht, Vertrautheit gibt uns Macht über die Dinge. Die Coronapandemie, die in den Tagen der Entstehung dieses Hefts die Welt bzw. deren Alltag verändert, zeigt uns dies auf völlig neue Weise: Schwester Ancilla Röttger wirft deshalb einen Blick auf ein scheinbares Paradoxon des Christlichen, der Vertrautheit mit dem Fremden. Denn egal, ob wir fremd in einer Gegend oder mit einer Situation sind – wenn wir uns mit dem Fremden vertraut fühlen, erhalten wir Macht über das eigene Leben. Und dies ist die beste Voraussetzung, um den manchmal auftauchenden Widrigkeiten zu trotzen.
Vertraut mit dem Fremden – das könnte eine Charakterisierung des Christlichen sein. Die Osterevangelien erzählen in vielen Variationen, wie der Auferstandene in den Begegnungen mit seinen Jüngern für sie fremd und doch vertraut ist. Da ist zum Beispiel Maria von Magdala (Johannes 20,14–16), die Jesus sieht und denkt, es sei der Gärtner, bis er ihren Namen nennt – fremd, bis Jesus selbst die Fremde durchbricht durch das Vertrautsein im Namen. Oder am See von Tiberias (Johannes 21,4–12): Nachdem die Jünger die ganze Nacht erfolglos gefischt hatten, sahen sie Jesus am Ufer stehen, wussten aber nicht, dass es Jesus war. In dieser Begegnung greift Jesus zu den vertrauten Zeichen des reichen Fischfangs und des anschließenden gemeinsamen Essens, und der Text endet in der kryptischen Äußerung: »Keiner von den Jüngern wagte ihn zu befragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war«. Oder die Geschichte der Emmaus-Jünger (Lukas 24,13–32): Jesus geht mit ihnen und lässt sich in ihr Gespräch ein, »doch ihre Augen waren gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten.« Erst als er mit ihnen das Brot brach, gingen ihnen Augen und Herz auf. Und noch viele andere Szenen, die alle gemeinsam haben: Durch den Tod hindurchgegangen ist Jesus fremd geworden, bis er in der Kontinuität von Vertrautem sich erkennbar macht.
Rituale, die in sich die Kontinuität des Vertrauten festhalten, helfen, das Fremde anzuschauen und auszuhalten.
Und ist es nicht eine Aufgabe in der geistlichen Begleitung, Menschen zu helfen, mit diesem fremden Gott im Alltag des Glaubens vertraut zu werden und zugleich das allzu Vertraute immer wieder aufzubrechen ins Fremde hinein, damit dieser Gott nicht harmlos wird? Rituale, die in sich die Kontinuität des Vertrauten festhalten, helfen, das Fremde anzuschauen und auszuhalten.
Der ehemalige Internatsleiter von Schloss Salem Bernhard Bueb macht in seinem Buch »Lob der Disziplin« darauf aufmerksam, wie Rituale helfen können, den ersten Schritt auf das Fremde zu wagen. Indem Kinder früh lernen, Begrüßungsrituale wie selbstverständlich zu praktizieren, hilft es ihnen, mit diesem Vertrauten dem Fremden zunächst standzuhalten. Der zweite Schritt ist dann eine Herausforderung an die persönliche Reifung.
Der 2015 verstorbene Philosoph Odo Marquardt zeigte auf, dass im achtzehnten Jahrhundert gleichzeitig mit dem modernen Fortschritt die ersten Museen entstanden. Und – so sagt er nicht unironisch – wie ein Kind seinen Teddybären fest im Arm hält und überall mit hinnimmt, so schleppt der erwachsene Mensch seine eiserne Ration des Vertrauten mit sich. »Die Teddybären der Erwachsenen sind zum Beispiel auch ihre Klassiker, mit Goethe durchs Jahr, mit Habermas durchs Studium, mit Reich-Ranicki durch die Gegenwartsliteratur.« 1Es wird erst dann problematisch, wenn der Teddybär in meinem Arm mich daran hindert, die Gegenwart wahrzunehmen, weil sie vielleicht nicht ganz so »kuschelig« ist. Im Laufe einer Beziehungsgeschichte ändert sich vieles – in mir, im anderen, in meiner Gotteserfahrung. Veränderung bedeutet nicht, dass es nicht mehr den Dichtegrad des Anfangs gewinnt, sondern Nähe und Liebe auf einer anderen Ebene geschenkt und empfangen wird. Die schöne Erinnerung kann jedoch eine Fessel werden, die meine Erwartung an »damals« misst, und ich versäume dabei, mich der Dichte des gegenwärtigen Augenblicks zu stellen.
Wenn wir miteinander, wenn wir mit Gott auf einem Weg bleiben, sind wir nach ein paar Wegbiegungen, nach ein paar Steilabhängen und Gipfelpunkten, nach langen Trockenstrecken nicht mehr dieselben wie beim Losgehen. Mein Leben mit anderen, mein Beten muss sich danach ausrichten und sich immer wieder dem Fremden, der Veränderung öffnen.
Das Fremde macht uns Angst, weil wir es nicht verstehen; denn würden wir es verstehen, wäre es nicht mehr fremd. Und mir scheint, das eigentlich Fremde für uns ist der Tod, den wir, ohne ihn klar im Blick zu haben, im Fremden fürchten.
Das Fremde macht uns Angst, weil wir es nicht verstehen; denn würden wir es verstehen, wäre es nicht mehr fremd. Und mir scheint, das eigentlich Fremde für uns ist der Tod, den wir, ohne ihn klar im Blick zu haben, im Fremden fürchten.
Seit einiger Zeit geht ein Gedicht von Paul Celan mit mir: »Das Fremde«. Erich Fried 2hat eine Deutung gefunden, mit der ich mich zunächst etwas annähern konnte. Gleich zu Beginn macht er darauf aufmerksam, dass oft behauptet würde, Paul Celans Gedichte seien unverständlich und er würde lediglich mit Klang und Dunkelheit der Verse spielen. Doch nachdem ich tagelang immer wieder diese Zeilen von Paul Celan angeschaut hatte, wurden in mir viele Bilder wach, die ich hier als Leitfaden nehmen möchte, um unseren Umgang mit dem Fremden zu erlernen.
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