Auf die Frage des mexikanischen Fernsehjournalisten nach der Kurienreform der Kirche spricht Franziskus Klartext: „Jeder Wechsel beginnt mit dem Herzen: mit der Bekehrung des Herzens … und auch mit einer Bekehrung der Lebensweise. […] Es geht um Umkehr, beim Papst angefangen, er ist natürlich der erste, der umkehren muss, nicht?“ 169Mit dieser Auffassung widerspricht er allen denen, die meinen, dass die Kurienreform lediglich die „verschiedenen Strukturen auf ihre Effizienz zu überprüfen“ 170hat. Er spricht vielmehr einen kulturellen Wandel an, der als Grundvoraussetzung einer Reform der kurialen Strukturen angesehen werden muss.
Zusammenfassend muss aufgrund einer gegenseitigen Durchdringung (Perichorese) zwischen Welt- und Ortskirche der vorliegenden Studie das Recht, ja sogar die Verpflichtung eingeräumt werden, nach dem „Gegenstand“ der Kirche sowohl als Subjekt als auch als Objekt auf ihre existentiell- und praktisch-theologische Ganzheit hin zu fragen. Das empirisch konzipierte 6. Kapitel fokussiert allerdings nicht die universale, sondern zwei ausgewählte diözesane Ortskirchen Österreichs.
2.2 Was ist Kultur?
In den zahlreichen Definitionen des weiten Begriffs „Kultur“ 171scheint beim ersten Hinsehen bisweilen wenig Übereinstimmendes zu finden sein. Was diese wissenschaftlichen und populär-wissenschaftlichen Versuche alle nicht leugnen können und somit gemeinsam haben, ist die lateinische Wortwurzel colere , was nicht weniger bedeutet als „bauen, bebauen, bearbeiten, für etwas Sorge tragen, bewohnen, ansässig sein, verpflegen, schmücken, verehren, heilig halten“. 172
Es ist nicht Aufgabe der vorliegenden Studie, den Kulturbegriff als solchen, d.h. philosophisch, anthropologisch, ethnologisch, soziologisch, biologisch oder in einem engeren Sinn zu analysieren. Der Fokus liegt auf dem Begriff „Organisationskultur“, der den Blick auf die „Kultur“ zwar mit einschließt, diese jedoch im Kontext menschlicher Organisationen betrachtet. Zudem werden Kulturdebatten ständig von neuen Typologien und unterschiedlichen Kulturbegriffen getragen, wie sie beispielsweise der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz aufzeigt: einen normativen Kulturbegriff (von Cicero bis Alfred Weber ), einen totalitätstheoretischen (von Johann Gottfried Herder bis zur aktuellen Ethnologie), einen differenztheoretischen (von Friedrich Schiller bis Talcott Parson s) und einen bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff (von Ernst Cassirer über den amerikanischen Pragmatismus bis heute). 173Die vielfältigen Typologien und Definitionen von „Kultur“ 174werden in den meisten Gesellschaften jedoch durch ähnliche, zumindest vergleichbare Wesensinhalte definiert: Es geht um kollektiv programmierte Denk- und Verhaltensmuster, um von einer sozialen Gruppe (mehr oder minder) akzeptierte Werte und Normen des täglichen Lebens, die aus der Vergangenheit tradiert sind und für die Lösung zukünftiger Probleme und die Bewältigung kommender Herausforderungen bewusst oder unbewusst herangezogen werden.
Johannes Messner (1891–1984), Theologe, Rechtswissenschaftler und Politiker, antwortet in seinem 1954 erschienenen Werk „Kulturethik“ auf die Frage, was Kultur ist: „… offenbar das, worin der Mensch die Vollentfaltung des wahrhaft Menschlichen findet“. 175Ruft man sich große Denker ins Gedächtnis, die sich mit der Kultur und den Kulturen beschäftigt haben, wie Plato, Aristoteles, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Georg W. F. Hegel, Arnold J. Toynbee, Friedrich Nietzsche, Thomas S. Eliot, Clyde Kluckhohn, Adolf Portmann, Christopher H. Dawson und andere, so ist klar zu erkennen, dass dieses vielschichtige und vielgestaltige Thema „Kultur“ Philosophen, Anthropologen, Theologen, Ethnologen und Soziologen seit Jahrhunderten gleichermaßen beschäftigt und in Bann gezogen hat.
Die explizite und somit systematisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik „Kultur“ hat erst in den letzten hundert Jahren Bedeutung erlangt. Das Brockhaus Konversations-Lexikon in seiner 14. Auflage aus dem Jahr 1894 widmete dem Begriff „Kultur“ lediglich siebzehn Spaltenzeilen und bezeichnet mit dem Wort „teils die Thätigkeit, die auf einen Gegenstand gewendet wird, um ihn zu veredeln oder zu gewissen Zwecken geschickt zu machen, teils den Erfolg dieser Thätigkeit“. 176Wird dort zwar schon von der Kultur des Geistes, der Wissenschaften und Künste und nicht nur von „der Kultur eines Ackers“ gesprochen, 177fehlt auch noch in der 14. Auflage (1929) des großen Konversationslexikons für den englischen Sprachkreis, der Encyclopaedia Britannica , das Stichwort Culture gänzlich. 178Googelt man heute jedoch im worldwide web , so liefert der deutsche Begriff „Kultur“ in 0,46 Sekunden 219,000.000 (in Worten: zweihundertneunzehn Millionen) Ergebnisse 179und das englische „ culture ‘ in 0,40 Sekunden 1.470,000.000 (in Worten: eine Milliarde vierhundertsiebzig Millionen) Hits. 180
Messner fasst die Wesensbestimmung des Begriffs „Kultur“ mit den Worten zusammen: „Unsere Erörterung des Kulturbegriffs ließ drei Wesenszüge der Kultur erkennen: Kultur ist Lebensform, Ordnung und Aufgabe …“ 181. Und damit baut er eine Brücke zu dem, was heute wissenschaftlich, aber auch allgemein unter Unternehmenskultur verstanden wird.
Es ist nicht verwunderlich, dass sich auch die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums mit dem beschäftigt, was unter Kultur zu verstehen ist, wobei die Konzilsväter am Schluss ihrer Gedanken eine „diakonale Nachhaltigkeit“ alles Wachsens, Schaffens und Denkens für die ganze Menschheit artikulieren ( GS 53 ):
Unter Kultur im allgemeinen versteht man alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; wodurch er sich die ganze Welt in Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen sucht; wodurch er das gesellschaftliche Leben in der Familie und in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft im moralischen und institutionellen Fortschritt menschlicher gestaltet; wodurch er endlich seine großen geistigen Erfahrungen und Strebungen im Lauf der Zeit in seinen Werken vergegenständlicht, mitteilt und ihnen Dauer verleiht zum Segen vieler, ja der ganzen Menschheit.
2.2.1 Organisationskultur
Organisationskultur, ein Begriff, für den wirtschaftliche Unternehmen den Namen „Unternehmenskultur“ präferieren, ist keine Schöpfung der letzten Jahrzehnte, auch wenn sich die Wissenschaft im Rahmen der Organisationstheorie erst seit etwa hundert Jahren systematisch mit diesem Wissenszweig auseinandersetzt. Eine aktuelle Stichprobe zeigt für den Begriff organizational culture (in englischer Sprache) 22,2 Millionen elektronische Einträge, corporate culture sogar 145 Millionen Hits. 182Soweit die Menschheitsgeschichte dokumentiert ist, wurden die alltäglichen geistigen und physischen Aktivitäten in sozialen Gebilden, sei es in ganzen Staatsgebilden, in öffentlichen Verwaltungen, Kirchen, Klöstern, Verbänden, karitativen Einrichtungen, Universitäten, Unternehmen, etc. im jeweiligen Umfeld stets von Weltanschauungen, Traditionen, Werten, Richtlinien, Überzeugungen, Glaubenssätzen und Haltungen geformt, die ihrerseits von der „übergeordneten“ Gesamtkultur getragen wurden. Für eine Organisation oder Institution, in der von Menschen in sozialer Interaktion etwas unternommen, gepflegt, erneuert, bebaut, erwirtschaftet oder verehrt wird, gilt der Kulturbegriff analog zu dem in der ganzen Gesellschaft, in der diese Organisation verwurzelt und somit eingebettet ist. 183
So wie also eine Analogie zwischen Unternehmenskultur und Gesamtkultur hergestellt werden kann, ist auch beispielsweise eine Analogie der Organisationskultur einer Ortskirche und der regionalen oder nationalen Gesamtkultur, in der diese Ortskirche wirkt, anzunehmen. Die in und nach der III. Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode über „die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“ im Oktober 2014 aufflackernde Diskussion – vor allem über die Themen wiederverheirateter Geschiedener und gleichgeschlechtlicher Beziehungen – haben die kulturellen Unterschiede zwischen „einer“ europäischen und „einer“ afrikanischen bzw. asiatischen Kultur klar zur Sprache gebracht. Die Äußerungen und Schlussabstimmungen vor allem afrikanischer und asiatischer Bischöfe ließen jedoch klar anklingen, dass sie sich nicht von „einer“ europäischen Kultur bevormunden lassen wollten; wobei zu bemerken ist, dass nur bedingt von einer „einen“ europäischen, afrikanischen oder asiatischen Kultur gesprochen werden kann – auch in der Kirche.
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