Paul Schlesinger - Urlaub von der Liebe

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Heinrich Gundermann ist im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern Galiziens gefallen. Die Eltern erhalten mit der Todesnachricht auch die Mitteilung, dass Heinrich drei Jahre vorher in aller Heimlichkeit geheiratet hat: die attraktive Sängerin und Schauspielerin Konstanze. Die junge Witwe kommt nach Berlin und lebt zunächst bei den Eltern Heinrichs, die sie freundlich aufnehmen. Sie verschweigt ihr Verhältnis zu dem Regisseur Gerhard Stein, dessen Geliebte sie, obwohl mit Heinrich verheiratet, weiterhin geblieben ist. Fritz, Heinrichs Bruder, kann ihren Reizen nicht widerstehen, und verliebt sich unglücklich in Konstanze, die mit Steins Hilfe eine Filmkarriere beginnt. Eines Tages erträgt Fritz, dem eine alte Freundin die Augen öffnet, Konstanzes falsches Spiel nicht mehr und möchte mit Gewalt eine Lösung erzwingen. Biografische Anmerkung Paul Felix Schlesinger (1878–1928), absolvierte zunächst eine Lehre als Textilkaufmann, entwickelte aber früh künstlerische Neigungen. Er befasste sich mit germanistischen, theater- und musikwissenschaftlichen Studien. Vor 1914 veröffentlichte er u.a. in «Licht und Schatten», in «Die Schaubühne» und im «Simplicissimus». 1911 bis 1912 arbeitete er als Ullstein-Korrespondent in Paris auf. Im Ersten Weltkrieg hielt er sich als Berichterstatter in der Schweiz auf und kehrte 1920 nach Berlin zurück. Als Feuilletonist schrieb er über den Alltag der Großstadt Berlin und war einer der bekanntesten Gerichtsreporter seiner Zeit.

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Paul Schlesinger

Urlaub von der Liebe

Roman

Saga

Die Nachricht von der Verheiratung ihres Sohnes Heinrich erhielten Gundermanns nicht vor jener anderen Meldung, die seinen Tod auf den Schlachtfeldern Galiziens verkündete. Der Verstorbene hatte die Wirkung der beiden Mitteilungen nicht gering eingeschätzt, vielmehr mit grosser Achtsamkeit Sorge dafür getragen, dass die Nachricht nicht zu unmittelbar vom Draht in die rote Tasche des Depeschenboten hüpfte und von dem nicht zu ungestüm auf flinkem Rade nach dem Olivaer Platz befördert wurde.

Seit den ersten heissen Frühlingstagen hatte sich Heinrich die Eltern nicht anders als auf dem abendlichen Balkon vorstellen können. Und in seinem letzten Briefe hiess es noch:

„Ich denke immer, es ist Abend, und Ihr sitzt in Eurem schmiedeeisernen Käfig bei elektrischer Beleuchtung. Es ist Abend, und Ihr seht nicht diese sonderbare Berliner, Charlottenburger, Wilmersdorfer Architektur, die — wenn Architektur gefrorene Musik — halbgefrorenes ‚Immer an der Wand lang‘ ist. Ihr seht nur die sonderbaren Spitzen und Profile sich in einen nicht gar so dunklen Nachthimmel schwarz einzeichnen, und dann seht Ihr die vielen anderen Tierchen in ihren elektrisch beleuchteten Käfigen. Wie sie Abendbrot essen, sich heiter oder sorgenvoll über die Zeitung hinweg unterhalten. Ihr seht die Pantomimen all dieser fremden Familien, und Mutter spintisiert sich Romane zurecht, aus dem Hinzutreten fremder Gestalten, aus dem plötzlichen Aufflammen der sonst toten Zimmerlichter. Ach ja, ich denke an die Tausende Berliner Käfige, und ich weiss erst, wie frei ich bin, obgleich es doch so lange her ist, dass ich entflog. Aber so frei wie jetzt war ich nie — wie jetzt, als der kaum sehr angesehene Gefreite eines Linien-Infanterieregiments, Kapellmeister a. D. des Kottbuser Stadttheaters — und immerhin gut genug, mitzumachen, mit Geist und Gliedern bereit — bereit für alles Mögliche —“

Seit jenem Briefe sassen Gundermanns, auch wenn es die Kühle des Abends eigentlich nicht gestattete, auf dem Balkon, als könne der Gruss des Sohnes sie sonst verfehlen. Und genossen bei alledem die Beruhigungen der Generalstabsberichte. Der alte Herr mit den scharfen blauen Augen unter schwarzen dichten Brauen und hoher kahler Stirn wirbelte den kecken grauen Schnurrbart oder strich sich über die pralle, mit sorgfältig kurzgehaltenem Spitzbart bestandene Wange. Er war mit seinen Dreiundsechzig nicht in die Gefahr geraten, nachzudenken, ob er noch mittun sollte. Aber er spürte diese Dreiundsechzig weniger als sonst, mass dem mattbunten Krawattenfleck auf dem wohlgebügelten Grau unverminderten Wert bei und trennte sich nicht einmal von den weissen Gamaschen, die Mutter Mathilde entschieden zu jugendlich fand.

Dachte Mutter Mathilde an die Romane fremder Familien? Ja, zuweilen, um Heinrichs Vorstellung zu genügen, und dann geriet sie allmählich an einen Punkt völliger Gedankenlosigkeit, aus der sie sich nur durch einen plötzlichen Zwang zu reissen vermochte. Sie wandte sich dann dem zweiten Sohne zu, der mit leidlich zerschossenem Arm unter der umgehängten Leutnantslitewka und einer tüchtigen Kugel im rechten Kniegelenk gesund und leibhaftig neben ihr sass, der aus Vaters leidenschaftlich blauen Augen in die Nacht hinausschaute. Die geraden, schmalen Lippen hielt er fest geschlossen. Für die Mutter hatte er sich ein Lächeln zurechtgelegt aus einer sehr fernen Empfindung. Und sie konnte dann auch noch dasselbe Lächeln hervorbringen, aus ihrer jungen Frauenschaft, als sie Fritz auf dem Schoss hatte. Es war ihr noch geblieben, als es hiess, mit Anmut zu ergrauen, und war in allen Schrecken auf ihren und auf Fritzens Lippen erstorben, um nur noch fern und erinnerungshaft manchmal wieder zu erscheinen. Wenn Mutter Mathilde aus ihrer Versunkenheit erwachte, stellte sich immer heraus, dass sie irgendeine Kleinigkeit vergessen, um die Fritz sie gebeten hatte. Nun wurde es in aller Hast und Bestürzung nachgeholt.

Herr Robert Gundermann sah dann mit missbilligenden Augen seiner Frau nach und sagte in einem Ton, als wäre er der Sohn und nicht der Mann dieser Frau: „Mutter wird alt.“

Einmal erwiderte Fritz: „Sie denkt an Heinrich —“

Und der Alte wurde unwirsch. „An gar nichts denkt sie. Sie bekommt es fertig, geradeaus zu schauen, vor sich hin und dabei zu schlafen.“

„Dann musst du sie aber auch lassen.“

Herrn Robert Gundermann ging so etwas nicht in den Kopf. Mathilde war doch sechs Jahre jünger und er durchaus noch kein Greis, gewiss nicht. Man hatte sein Geschäft, man sass fest im Sattel und betrieb es doch, trotz der Schwierigkeiten im Kriege, mit einer sorgsamen Ausnutzung aller plötzlich entstandenen Möglichkeiten. Und wenn er beim Geschäft war, konnte er dem Fritz gegenüber alles loswerden, was er auf dem Herzen hatte. Der hörte so genau zu und war im Urteil noch einige Grade vorsichtiger als der Vater selbst.

„Die Aschbecher mit dem Eisernen Kreuz gehen rasend — es ist erstaunlich. Mir sind ein paar neue Stanzmaschinen angeboten worden.“

„Nimm sie nicht, Vater. Liefere ruhig ein paar Tausend weniger. Nur jetzt nicht erweitern, bevor man klar sieht.“

„Was soll man sehen —“

„Die Konjunktur —“

Der Alte pafft darauf los.

„Wir haben die Konjunktur und erleben’s mal wieder, dass die Menschen sich nicht aus der Gewohnheit bringen lassen. Man ist hoffnungsvoll gestimmt, man hat vermehrte Gelegenheit, sich Geschenke zu machen.“

„Der Markt ist bis zum Platzen gefüllt, Vater. Je weniger wir den Leuten liefern, desto weniger bleiben sie uns schuldig. Die neue Konjunktur wird ganz anders aussehen. Und ich sage dir: Beim Wiederaufbau Ostpreussens wird das Kunstgewerbe —“

„Aber ich bitte dich, Fritz, rede doch nur nicht davon! Das Kunstgewerbe ist dein Steckenpferd seit sieben Jahren.“

„Warum hast du mich was lernen lassen?“

Der Alte wird immer unruhiger.

„Nun, Fritz, ich habe dir den Gefallen ja auch mehr als einmal getan und habe alle möglichen Professoren für uns arbeiten lassen. Und der Erfolg? Zwei goldene Medaillen und dreissigtausend Mark draufgezahlt. Du nennst geschmacklos, was wir fabrizieren. Aber ich als Fabrikant habe nicht die Aufgabe, das Publikum zu erziehen. Das sollen die Schulmeister machen. Wir können nur anbieten, und was am meisten verlangt wird, das schmeissen wir auf den Markt.“

Fritz bleibt hartnäckig.

„Ich rede nicht dafür, dass wir die Fabrik von heut auf morgen auf eine andere Tonart stimmen. Aber vorbereitet müssen wir sein auf eine Zeit, wo Fragen des Geschmackes nationale Angelegenheit sein werden. Sie sind es längst, und die Brüsseler Ausstellung war der erste Sieg dieses Krieges — ein Sieg nicht nur nach aussen. Auch nach innen. Das ganze alte Deutschland lag auf der Nase, und die Regierung hat einen Begriff davon, was sein könnte, was sein wird.“

Die beiden Gundermanns lieben diese Streitereien, die auf dem Boden innerer Ruhe erwachsen. Frau Mathilde hat nun getan, was sie versäumt. Sie sitzt mit einer Handarbeit dabei. Die Drei vergessen nicht, an Heinrich zu denken. Aber sie haben es sich abgewöhnt, das Schreckliche auszumalen. Sie reden vom Geschäft, auch weil Heinrich nicht dabei ist, und weil der Kapellmeister vom Kottbuser Stadttheater keinen Anteil an diesen Dingen hat.

Heinrich Gundermann hat die Nachricht von seinem Tode auf einem Umweg geschickt. Das zusammengefaltete Papier mit der blauen Depeschenmarke liegt schon seit zwei Stunden in dem Briefkasten einer Junggesellenwohnung, die sich zwischen vierzig Kleinbürger-Quartieren einer Steglitzer Mietskaserne eng und scheu eingenistet hat. Ihr Inhaber, Herr Oskar Gundermann, sitzt noch hinter der grossen Scheibe eines Kaffeehauses und spielt die letzten Trümpfe dieses Nachmittagsskats aus. Dann endlich trennt er sich und geht wehmütig nach Hause, an den ratternden Strassenbahnen vorbei, vorbei an heftig, mitleidlos lärmenden Kindern, an grell beklebten Vorstadtgeschäften, die den Einwohnern verkünden: Ihr braucht nicht in die Stadt zu fahren, um Mäntel, Hüte, Hemden und Regenschirme zu kaufen. Kauft bei uns! Unterstützt den Nachbarn! Den Steglitzer Gewerbetreibenden!

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