Was ist schiefgelaufen, dass es so weit kommen konnte? Haben wir die Alarmsignale nicht bemerkt, nichts gespürt? Haben wir sie missachtet? Haben wir uns zu viel zugemutet? Haben wir zu viel »weggesteckt«? Haben wir zu lange die Zähne zusammengebissen?
Leben auf der Überholspur
Die Tatsache, dass es Millionen Schmerzkranke gibt, weist darauf hin, dass sich offenbar nicht jeder Mensch verlustfrei an den modernen Turbo-Lebensstil anpassen kann. Das bekommen vor allem Frauen zu spüren. Mehrfachbelastung in Familie und Beruf ist die Regel.
Medizin und Wissenschaft behaupten, dass FMS hauptsächlich ein Dauerzustand verschiedener funktioneller Störungen ist, eine Folge von Anpassungsreaktionen auf den permanenten Alarmzustand. Und das Gehirn hat diese abnormen Reaktionsmuster dauerhaft abgespeichert. Irgendwann ist die Kompensationsfähigkeit der Organsysteme im Alarmmodus erschöpft, und es kommt zu den bekannten Symptomen: Schmerz-, Wärme-, Kälte-, Geruchs-, Lärm-, Licht- und Druckempfindlichkeit, Schlafstörungen und Verdauungsprobleme. Da die problematischen Anpassungsreaktionen über Jahre fixiert wurden (FMS entsteht nicht über Nacht!), steht man vor der schier unlösbaren Aufgabe, die Fehlfunktionen zu korrigieren, um wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können.
Somit erscheinen medizinische »Reparaturversuche«, die sich an einzelnen Symptomen orientieren, nicht Erfolg versprechend – dazu bekennt sich mittlerweile auch die heutige Schulmedizin. Die Zukunft der Schmerztherapie, um FMS zu begegnen, liegt in einer vernünftigen Kombination unterschiedlicher Behandlungsmethoden.
Der ganze Mensch muss sich verändern. Der Lebensstil muss in Bezug auf Stressfaktoren überprüft und verändert werden, in kleinen Schritten. Manch einer wird den Hochgeschwindigkeitskurs aufgeben müssen, der eigenen Gesundheit zuliebe. Er wird ein Leben mit mehr Gelassenheit ansteuern. Warum auch nicht!
Der menschliche Körper verfügt über enorme Selbstheilungskräfte, die wirksam unterstützt werden können. Die besten Erfolgschancen für die Behandlung der Fibromyalgie bieten zur Zeit ganzheitliche und multimodale Konzepte, die auf die Eigeninitiative der Betroffenen setzen. Bewegung, Entspannung, Ernährung und Kriseninterventionen tragen dazu bei, die Schmerzkrankheit zu bewältigen oder vielleicht sogar zu besiegen.
INFO
MASCHINE MENSCH?
Der französische Philosoph René Descartes beschrieb im 17. Jh. das Grundprinzip der Naturwissenschaft: Lebewesen sind nur programmierbare Maschinen, die den Gesetzen der Mathematik folgen. Später setzte sich eine Sichtweise durch, die Natur und Mensch als mechanistische Phänomene betrachtet. Spiritualität und Ganzheitlichkeit verloren an Bedeutung für die Heilkunde. Einmal mehr offenbart die rätselhafte Schmerzkrankheit die Grenzen der modernen Medizin.
Was ist Fibromyalgie?
Fibromyalgie oder FMS (Fibromyalgie-Syndrom) ist eine chronische, bislang nicht heilbare Erkrankung unbekannter Ursache. Weitverbreitete Schmerzen wechselnder Lokalisation und Intensität, vor allem in der Muskulatur, eine generell erhöhte Reizempfindlichkeit sowie Schlafstörungen, Müdigkeit und Erschöpfung sind die Hauptsymptome. Fibromyalgie ist in jedem Fall keine primär organische oder psychische Erkrankung.
Die Medizingeschichte der Fibromyalgie ist kurz. Erste Hinweise auf die Schmerzkrankheit finden sich im 19. Jahrhundert. Die heute anerkannte Fibromyalgie ist erst 30 Jahre alt. Belegbare Fallgeschichten über typische Teilsymptome gibt es schon seit der Antike, oder sie stammen aus anderen Kulturkreisen. Die Erforschung der beiden Hauptsymptome chronischer Schmerz und Erschöpfung ist die Basis des heutigen Fibromyalgie-Konzepts.
INFO
WAS IST FIBROMYALGIE?
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Fibromyalgie ist eine der Ursachen für chronische, über den Körper verteilte (generalisierte) Schmerzen (chronic widespread pain, CWP) . |
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Fibromyalgie kennzeichnet Extremzustände innerhalb eines Kontinuums von Schmerz und Empfindung. |
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Der chronische Schmerz ist die Krankheit selbst. |
Terminologie
Der Begriff Fibromyalgie ist aus drei Wortbestandteilen zusammengesetzt und bedeutet wörtlich »Faser-Muskel-Schmerz«: »Fibro« von lateinisch fibra (Faser), »myo« von griechisch myos (Muskel), »algie« von griechisch algos (Schmerz). Die Medizin benutzt bevorzugt den Begriff Fibromyalgie-Syndrom (FMS), um auf das Sammelsurium gleichzeitig vorliegender, unterschiedlicher Beschwerden (Syndrom) hinzuweisen.
Symptome
Hauptsymptom des FMS sind chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen: im Rücken (Nacken, Brustkorb, Wirbelsäule) sowie in den Armen und Beinen. Darüber hinaus fallen Müdigkeit (Erschöpfung) und Schlafstörungen auf.
Weitere häufige Begleitsymptome sind Morgensteifigkeit oder Schwellungen in Händen, Füßen oder dem Gesicht (Ödemneigung). Viele Betroffene leiden zusätzlich an Beschwerden durch Fehlfunktionen innerer Organe (Reizmagen/-darm/-blase), an Kopfschmerzen und Reizüberempfindlichkeit sowie psychischen Problemen (Gedächtnis-, Konzentrationsstörungen, Antriebsschwäche, Angst, Depression).
Definitionen
Seit mehr als drei Jahrzehnten suchen Medizin, Wissenschaft und Forschung weltweit nach verlässlichen Diagnose- und Klassifizierungskriterien für das rätselhafte Fibromyalgie-Syndrom. In den USA und Deutschland werden FMS-Leitlinien fortlaufend aktualisiert.
Die derzeit international anerkannte FMS-Definition stammt vom Amerikanischen Kollegium für Rheumatologie (ACR, 1990): Eine Person hat länger als drei Monate anhaltende Schmerzen in mehreren Körperregionen (Wirbelsäule, Nacken, linke/rechte Körperhälfte, ober-/unterhalb der Taille) sowie mindestens 11 von 18 druckschmerzhafte Tenderpoints (Druckpunkte an Muskel-Sehnen-Übergängen). Bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Fibromyalgie mit dem Code M 79.00 gelistet. In der aktuellen deutschen Krankheitenliste (ICD 10 German Modification 2008) hat die Fibromyalgie einen eigenen Code unter den Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und der Bindegewebe (M 79.7).
ACR-1990-FMS-Kriterien
1. Über den Körper verbreitete Schmerzen sind länger als drei Monate nachweisbar (CWP); Schmerzen auf beiden Körperhälften (links/rechts) sowie unter- und oberhalb der Taille und am Achsenskelett (Brust/Rücken).
2. Mindestens 11 von 18 definierten Druckschmerzpunkten (Tenderpoints) bei einem Daumendruck von vier Kilogramm sind schmerzhaft.
FMS-Kriterien 2008
1. Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen;
2. typische Symptome wie Steifigkeits-/Schwellungsgefühl, Müdigkeit, Schlafstörungen, vegetative und psychische Beschwerden;
3. 11 von 18 definierten Tenderpoints schmerzhaft.
Existiert das Fibromyalgie-Syndrom wirklich?
PD Dr. med. Winfried Häuser, anerkannter FMS-Experte und Hauptautor der aktuellen deutschen FMS-Leitlinie (2012) äußert sich folgendermaßen:
»Manche Ärzte, beispielsweise Orthopäden und ärztliche Gutachter der medizinischen Dienste von Rentenversicherungsträgern und Landesämtern, weigern sich, die Diagnose eines FMS anzuerkennen. Manche Psychiater und Psychosomatiker behaupten, dass das FMS eine Variante einer Depression bzw. einer somatoformen Störung ist. Die orthopädischen, psychosomatischen und psychiatrischen Fachgesellschaften haben sich an der Leitlinie beteiligt und die Vorstände haben der Leitlinie zugestimmt. Wenn also ein Orthopäde, Psychiater oder Psychosomatiker behauptet, dass es das FMS nicht gibt, so äußert er seine persönliche Meinung, die im Widerspruch zu dem seiner Fachgesellschaft und der Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation steht.«
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