Die schmerzhafte Erfahrung
Betrachtet man die eigene Alltagserfahrung, so wird jeder Mensch, der Schmerz erleidet, bestätigen, dass er Schmerz als »negativ«, widrig und als Bruch seiner bisherigen »Normalität« im bislang schmerzfreien Körper erlebt. Da man dem eigenen Schmerz nicht entfliehen kann, wird er nach und nach die volle Aufmerksamkeit erhalten. Schmerz totalisiert. Dieses »Getroffenwerden« vom Schmerz wird eine ohnmächtige Reaktion auf die nicht mögliche Flucht und die vergebliche Rückzugsbewegung hervorrufen. Davon zeugt der Ausdruck des Leidens. Und mit zunehmender Stärke der Schmerzen wird der Mensch sich gezwungenermaßen auf ihn konzentrieren müssen: Die Außenwelt verliert an Bedeutung, die innere Dominanz des Schmerzerlebens verstärkt sich. Eine der wenigen spezifischen Beschreibungen der Schmerzerfahrung, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, ist die medizinische Schmerzdeutung. Aber für den Schmerzpatienten ist eine solche Festlegung problematisch: Er kann zwar auf Erklärungsangebote der Medizin mit Therapie- und Heilungsversprechen zurückgreifen, dennoch werden diese Angebote nicht der subjektiven Schmerzerfahrung des Betroffenen gerecht. Der Patient weiß mehr über den eigenen Schmerz als jeder Arzt, möge er auch noch so gut ausgebildet sein.
Die schmerzhafte Empfindung
Im Jahr 1965 stellten Melzack und Wall die Theorie der »Schmerzschwelle« (Gate-Control-Theorie) auf: Im Hinterhorn des Rückenmarks soll es eine Art »Schranke« geben, die Empfindungssignale passieren lässt, filtern oder blockieren kann. Dieses Modell war lange sehr populär, hat sich aber als unzureichend erwiesen. Auch ein Schmerzzentrum im Gehirn, etwa analog zum Sehzentrum, ist bislang nicht gefunden worden. Die aktuelle neurophysiologische Forschung geht davon aus, dass an der Schmerzempfindung das gesamte zentrale Nervensystem beteiligt ist und dass die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Gehirns (Neuroplastizität) ein wesentlicher Mechanismus der Schmerzverarbeitung ist: Die Fähigkeit, jede Art von Lernprozessen zu vollziehen und »im Fleisch zu speichern«. Diesen gespeicherten Schmerz wird man nur schwer wieder los.
Das Bild des schmerzkranken Menschen: Eine Patientin beschreibt die Fibromyalgie.
Der schmerzkranke Mensch
Chronische Schmerzen wirken zerstörerisch auf den ganzen Menschen. Der eigene Bewegungsspielraum wird eingeschränkt. Die Welt schrumpft. Die Wahrnehmung der Realität verändert sich, stimmt nicht mehr mit der Wahrnehmung Außenstehender überein. Jede Wahrnehmung und Erfahrung des schmerzkranken Menschen ist vom Dunst der Schmerzen durchdrungen. Eine unüberwindliche Mauer trennt den Schmerzkranken vom Rest der Welt. Chronischer Schmerz verringert auf diffuse Weise den Bewegungsspielraum des Betroffenen. Raum und Zeit verengen sich. Soziale Beziehungen und Kommunikation schwinden.
Für den FMS-Patienten ist der Schmerz endlos. Er schwankt in der Intensität, wandert im Körper, kann schubweise kommen und gehen. Er kann so unerträglich werden, dass normale Lebensaktivität qualvoll und nahezu unmöglich wird. Der Albtraum des FMS-Patienten ist zudem die Gewissheit, dass er zwar hin und wieder seine Beschwerden günstig beeinflussen kann – der immer wiederkehrende Schmerz aber immer wieder alle Bemühungen und scheinbaren Erfolge komplett zunichte machen wird.
Ein schmerzkranker Mensch, der zum Gefangenen seiner Schmerzerfahrung geworden ist, wird sich mit der Zeit ausschließlich über sein Schmerzsyndrom definieren. Mediziner haben dann häufig das Etikett »Schmerzpersönlichkeit« zur Hand. Fehlt eine Diagnose, oder wird das vorliegende Dauerschmerzproblem gar geleugnet, wird der Betroffene noch stärker in die soziale Isolation getrieben. Widersprüchliche Aussagen der verschiedenen behandelnden Ärzte verunsichern seine Selbstwahrnehmung. Das Leiden nimmt zu.
Schmerz ist eine komplexe subjektive Sinneswahrnehmung, die als akutes Geschehen den Charakter eines Warn- und Leitsignals aufweist und in der Intensität von unangenehm bis unerträglich reichen kann. Als chronischer Schmerz hat es den Charakter des Warnsignales verloren und wird heute als eigenständiges Krankheitsbild (chronisches Schmerzsyndrom) gesehen und behandelt.
(Quelle: wikipedia.de, 2014)
Leben im Alarmzustand
Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist eine schwere chronische, bislang nicht heilbare Erkrankung mit weit verbreiteten Schmerzen wechselnder Lokalisation in der Muskulatur, an Gelenken und im Rücken, mit Druckschmerzempfindlichkeit sowie Begleitsymptomen (Müdigkeit, Schlafstörungen, Reizdarm, Konzentrations- und Antriebsschwäche, Erschöpfung, Schwellungen u. a.). Die diversen Beschwerden und Erscheinungsformen der Fibromyalgie können bislang nur beobachtet und beschrieben werden.
Die Vielfalt möglicher funktionaler Beeinträchtigungen ist ein Grund für die Unsicherheit und Verzweiflung der Betroffenen und der Mediziner. Eine allgemein gültige, überzeugende und brauchbare Definition der Fibromyalgie fehlt noch. Darüber hinaus mangelt es auch an verlässlichen Kenntnissen über die Ursachen der Fibromyalgie. Heute deutet man die rätselhafte FMS-Befindlichkeit als Zustand einer in allen Körpersystemen permanent überdurchschnittlich erhöhten Sensibilität. Dies entspricht der auf »Überleben« programmierten Anpassungsreaktion auf Stressoren und Gefahrensituationen. Und Schmerz ist das Alarmsymptom Nummer eins. Mit anderen Worten: leben im permanenten Alarmzustand. Die moderne Welt mit Technik und Naturwissenschaft hat viele Vorteile gebracht, aber auch zu enormen Zerstörungen geführt. In Industriestaaten lebt man heute mit einem früher unvorstellbaren Komfort. Wir sind sesshaft geworden, leben überwiegend in geschlossenen Räumen, müssen komplizierte Technik beherrschen, konsumieren industriell produzierte Nahrung und atmen schlechte Luft. Die Städte sind überfüllt, globale Umweltrisiken und Klimaveränderungen bedrohen uns, soziale Gegensätze verschärfen sich, der Kampf um materielle Vorteile wird härter und die Leistungsanforderung steigt unaufhörlich.
Klagt heute nicht fast jeder über zu viel Stress, Depression und drohenden Burnout? Hält jeder Mensch solche Stressbelastungen aus, ohne krank zu werden?
Man kann FMS als Anpassungsreaktion auf Lebensbedingungen betrachten, die außer Kontrolle geraten sind und einen permanenten Alarmzustand verursachen.
Wer die Alarmzeichen der Überforderung ignoriert, riskiert den Systemabsturz: Burnout!
Stressreaktionen, die dem Prinzip »Kampf oder Flucht« zuzuschreiben sind: Der Blutdruck steigt, man atmet schneller, die Muskulatur spannt sich an, der Darm streikt, Adrenalin schießt durch den Körper.
Störungen im System
Der menschliche Organismus hat sich immer wieder an veränderte Umweltbedingungen angepasst und lebensnotwendige Signalsysteme tun im »Regelfall« ihren Dienst: Schmerz, Lust, Angst, Freude oder Abneigung, Berührung, Kälte und Wärme, hören, sehen und riechen, Durst, Hunger und Sättigung oder Müdigkeit. Die Beschwerden bei Fibromyalgie sind Hinweise auf Störungen dieser Signalsysteme.
Ergebnisse der FMS-Forschung zeigen, dass wichtige Organfunktionen abnorm verändert sind. Dies zeigt sich im Nerven-, Hormon- und Abwehrsystem, im Verdauungs- und Ausscheidungssystem, in Muskulatur und Stoffwechsel. Insbesondere ist die gesamte Empfindungsfähigkeit beeinträchtigt, vor allem die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. Sie kann durch den kleinsten Reiz »eingeschaltet« werden. Man spricht von einer gesenkten Reizschwelle.
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