In seiner Antwort hielt Grey sich lange mit Betrachtungen darüber auf, wie notwendig es sei, zu spüren, dass einem Vertrauen entgegengebracht wird:
«Bereits der blosse Verdacht, dass dies nicht der Fall ist, beeinträchtigt zwangsläufig die eigene Nützlichkeit, wenn es sie nicht ganz zerstört, und macht eine Situation wie die meine ganz und gar unerträglich. Ich kann nicht vor mir selbst verheimlichen, dass die Königin, seit ich ihr bei mehr als einer Gelegenheit unangenehme Meinungen vorgesetzt habe, mir gegenüber reservierter geworden ist und sich bei gewissen Fragen nun mir gegenüber gänzlich abschottet. Ich glaube freilich, dass dies weniger mit einer Abnahme des Vertrauens zu tun hat als mit der Furcht, dass man ihr Dinge aufdrängt, die nicht im Einklang mit ihren Neigungen stehen, und vor allem diese Überzeugung ist es, die mich veranlasst, auf einem Posten zu verharren, der, wie ich Ihnen sagte, als Sie hier waren, sehr unangenehm für mich geworden ist.»
Der Brief fährt mit einer düsteren Vorahnung fort:
«Ich wünschte, ich könnte der Meinung sein, dass sich die Angelegenheit bereinigen liesse, doch wenn ich meiner Pflicht gegenüber der Königin aufrichtig nachkomme, und ich bin entschlossen, dies zu tun, dann sehe ich voraus, dass die Sache nur noch schlimmer werden wird. Gleichwohl können Sie sicher sein, dass ich keine überstürzten Schritte unternehmen werde, und die freundliche und schmeichelhafte Weise, in der Sie sich mir gegenüber geäussert haben, ermuntert und ermutigt mich sehr, dabeizubleiben.»
Das Ende dieses Briefes enthält einen Hoffnungsschimmer:
«Seit ich diesen Brief geschrieben habe, habe ich (zum ersten Mal seit einigen Wochen!) wieder Anweisungen seitens der Königin erhalten, die eindeutig keinen Mangel an Vertrauen erkennen lassen, auch wenn bestimmte Themen tabu sein mögen, und obwohl sie es vielleicht vorzieht, nicht persönlich mit mir zu kommunizieren!» 28
Grey blieb auf seinem Posten, doch weder er noch Disraeli noch irgendjemand oder irgendetwas sonst (einschliesslich der Presseattacken aus dem Hinterhalt) konnten die Königin daran hindern, die Lage zu verschlimmern: Sie beschloss, sich im Mai für einige Wochen nach Balmoral, ihre Residenz in Schottland, zurückzuziehen. Disraeli unternahm einen Versuch, sie davon abzuhalten, aber wie er bereits zu Grey gesagt hatte – «Sie sollte nicht nach Schottland gehen, doch sie wird es tun» 29–, so kam es auch. Grey hatte umso mehr Grund, sich um die Königin zu sorgen, als er eine der wenigen Personen war, die wussten, dass sie nach der Rückkehr aus Balmoral in Richtung Kontinent aufbrechen würde.
Benjamin Disraeli, Premierminister im Jahr von Königin Victorias Reise in die Schweiz.
Fairerweise müsste man sagen, dass die Königin – neben der Bürde, die sie sich mit ihrer eigenen Form der ewigen Trauer, dem ehrenden Andenken an ihren lieben Verstorbenen, auferlegt hatte – tatsächlich Grund für Kummer und Angst hatte. Nachdem sie ihres Gemahls und damit ihrer wichtigsten Stütze beraubt worden war, benötigte sie viele Jahre, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Im März 1868 wurde ihr zweiter Sohn, Prinz Alfred, in Australien von einem Angehörigen der irischen Unabhängigkeitsbewegung, der sogenannten Fenian Brotherhood, angeschossen und verwundet. Im April betete sie für den Erfolg eines britischen Expeditionskorps, das gegen König Theodore von Abessinien vorrückte, der sämtliche britischen Untertanen, deren er in seinem Land habhaft werden konnte, als Geiseln genommen hatte. Ihre Gebete wurden erhört: Das Korps rückte durch eine nahezu unpassierbare Gegend bis zu Theodores Festung in Magdala vor und befreite die Gefangenen.
Anfang Mai löste Gladstones liberale Opposition heftige politische Unruhen aus. Sie brachte eine Resolution ins Unterhaus ein, die vorsah, den irischen Zweig der United Church of England and Ireland abzuschaffen, da es sich bei diesem nur um eine sehr kleine Minderheit handle. Die Liberalen wussten, dass die Regierung eine solche die Verfassung betreffende Frage nicht entscheiden konnten, ohne eine Neuwahl anzuberaumen. Tatsächlich riet Disraeli der Königin dann auch, das Parlament aufzulösen, und teilte ihr mit, die Minister seien bereit, sofort zurückzutreten, falls sie dies für das Beste hielte. Die Königin lehnte das Rücktrittsangebot (verständlicherweise) ab, stimmte aber zu, dass das Parlament zu gegebener Zeit aufgelöst werden und Neuwahlen stattfinden sollten. Dies geschah schliesslich im November, und sie verbrachte den Sommer und den Herbst ängstlich hoffend, dass ihr neuer Verbündeter und Unterstützer nicht aus dem Amt gefegt und durch den weit weniger sympathischen Gladstone ersetzt würde. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet Disraeli sie, wenn auch zweifellos unbeabsichtigt, in einem Brief voller blumiger Dankesbekundungen auf grausame Weise an diese Möglichkeit erinnert hatte. Die Königin hatte ihm – schicklicherweise durch eine Mittelsperson an Frau Disraeli adressierte – Frühlingsblumen gesandt, «da diese sein Zimmer zum Strahlen bringen würden». Vom Unterhaus aus schrieb Disraeli sofort an die Queen und bedankte sich dafür, dass «Ihre Majestät sich heute Morgen auf so strahlende und anmutige Weise seiner erinnert hat […]». Doch dann machte Disraeli die Wirkung seiner Worte wieder zunichte, indem er im selben Brief schrieb: «Das Parlament ist völlig ruhig und im Begriff zu sterben.» 30Die Königin auf eine mögliche politische Veränderung hinzuweisen, war zweifellos das Letzte, was er damit beabsichtigte. Vielmehr ging es ihm wahrscheinlich darum, vor der Queen die unangenehme Tatsache zu verbergen, dass Ruhe im Parlament ein äusserst rares Gut war.
«Eine Vision»: Königin Elizabeth I. erscheint Königin Victoria und ermahnt sie, ihre Pflichten über ihre Trauer zu stellen. Karikatur in The Razor. A Weekly Shaver, or the London Humorist & Satirist, 11. Juli 1868.
Tatsächlich befand sich das Parlament in hellem Aufruhr, wie der Globe and Traveller am 19. Mai anschaulich schilderte:
«Wird das Parlament aufgelöst werden? – Die Stimmung der Opposition wird immer gereizter und bösartiger. Was immer der PREMIERMINISTER vorschlägt – HR. GLADSTONE und seine Verbündeten versuchen, wenn irgend möglich, es zu verhindern. Nie zuvor in seiner Geschichte ist durch ein derart schmutziges und skrupelloses Parteiengeplänkel so viel Schande über das Unterhaus gebracht worden. Nie zuvor hat ein Politiker – denn HR. GLADSTONE hat jeglichen Anspruch darauf verwirkt, als Staatsmann bezeichnet zu werden – auf eine derart verachtenswerte Weise die gemischten Folgen persönlicher Abneigung und enttäuschten Ehrgeizes zur Schau gestellt. Der Geist des Neides hat die Form eines Sterblichen angenommen, und dieser repräsentiert South Lancashire.»
South Lancashire war der Wahlkreis des liberalen Gladstone und The Globe unterstützte die Konservative Partei.
Um den Sorgen der Königin eine weitere hinzuzufügen, äusserte die Presse ihre heftige Kritik an Victorias Abwesenheit vom Zentrum des Geschehens nun immer unverhohlener. Besonders gekränkt war diese, als ein entsprechender Artikel Mitte Mai im Globe erschien, unmittelbar nachdem sie alles darangesetzt hatte, im Buckingham Palace eine grosse Einladung zu geben und ausserdem den Grundstein für das neue St. Thomas’ Hospital in London zu legen. Der Artikel würdigte diese öffentlichen Aktivitäten als Anbruch eines neuen Frühlings in den Beziehungen zwischen der Landesmutter und ihren loyalen Untertanen, beklagte aber Victorias Absicht, diesen Neubeginn gleich wieder im Keim zu ersticken, indem sie sich fast unmittelbar danach schon wieder aus dem Staube mache.
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